Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Heinrich Seidel,

ein elender Brot- und Weinverderber von der strafenden Gerechtigkeit ereilt
wird; aber warum sollen die Verderber der Sprache, die Sünder an den geistigen
und idealen Gütern der Nation straflos sein?

(Schluß folgt.)




Heinrich Seidel.

n seinen "Neuen Serapionsbrüdern" spricht Gtttzkow einmal von
einem eigentümlichen Leiden, das den Großstädter unfehlbar befalle
und dus er die Trottoirkrankheit nennt. Der alte Medizinalrat,
dem er diese Auseinandersetzung in den Mund legt, bezeichnet
damit die Einwirkung jener niemals unterbrochenen Reihe von
mißern Eindrücken, denen der auf dem Bürgersteig der Großstadt wandelnde aus¬
gesetzt ist, und die, wenn auch im einzelnen verschwindend klein und unbemerkbar,
in ihrer Gesamtheit doch den Geist in fortwährender Unrnhe erhalten und so
jenen Zustand teils herbeiführen, teils verschlimmern, der unter dem Namen der
Nervosität als eine Modekrankheit des jetzigen Geschlechtes im allgemeinen und
der Großstädter im besondern bekannt ist. Um sich wöchentlich wenigstens
einmal ans dem atemloser Treiben der Großstadt herauszuretteu, versammeln
sich in jenem Roman eine Anzahl gleich gesinnter Männer um jedem Montag zu
einem Frühtrnnk in einer Weinstube, und zwar deswegen Montags, weil um
diesem Tage keine Zeitung erscheint und somit dem einfachen Menschentum Ge¬
legenheit geboten ist, ungestört von den Tagesereignissen der Politik sich aus¬
zubreiten. Neuerdings ist freilich auch dieses Aufatmen dem Ruhebedürftigen
ganz oder wenigstens teilweise abgeschnitten: etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen
der ersten Kapitel von Gutzkows Roman wurde, "um einem dringenden Bedürfnisse
abzuhelfen," eine Zeitung gegründet, die bloß Montags erscheint, und seitdem
suchen auch die audern Tagesblätter die Gunst ihrer Leser sich damit zu sichern,
daß sie auch Montags den politischen und sonstigen Neuigkeitshunger des Pu¬
blikums zu stillen versprechen.

Wer das Bedürfnis fühlt, sich ans dem wirbelnden Treiben der ihn um¬
brandenden Großstadt in einen ruhigen Hafen zu retten, und doch die Fühlung
mit diesem Leben nicht ganz verlieren will, dem bietet sich ein Mittel in den
Schöpfungen eines Dichters, dessen Eigenart es ist, gerade aus diesem Wirrsal
Stoff zu dichterischen Hervorbringungen zu finden, der es versteht, auf dem
unruhigen Hintergrunde des großstädtischen Lebens eine Reihe friedlich idyllischer
Bilder hervorzuzaubern, die den Lärm der Riesenstadt nnr in so gedämpften Wellen


Heinrich Seidel,

ein elender Brot- und Weinverderber von der strafenden Gerechtigkeit ereilt
wird; aber warum sollen die Verderber der Sprache, die Sünder an den geistigen
und idealen Gütern der Nation straflos sein?

(Schluß folgt.)




Heinrich Seidel.

n seinen „Neuen Serapionsbrüdern" spricht Gtttzkow einmal von
einem eigentümlichen Leiden, das den Großstädter unfehlbar befalle
und dus er die Trottoirkrankheit nennt. Der alte Medizinalrat,
dem er diese Auseinandersetzung in den Mund legt, bezeichnet
damit die Einwirkung jener niemals unterbrochenen Reihe von
mißern Eindrücken, denen der auf dem Bürgersteig der Großstadt wandelnde aus¬
gesetzt ist, und die, wenn auch im einzelnen verschwindend klein und unbemerkbar,
in ihrer Gesamtheit doch den Geist in fortwährender Unrnhe erhalten und so
jenen Zustand teils herbeiführen, teils verschlimmern, der unter dem Namen der
Nervosität als eine Modekrankheit des jetzigen Geschlechtes im allgemeinen und
der Großstädter im besondern bekannt ist. Um sich wöchentlich wenigstens
einmal ans dem atemloser Treiben der Großstadt herauszuretteu, versammeln
sich in jenem Roman eine Anzahl gleich gesinnter Männer um jedem Montag zu
einem Frühtrnnk in einer Weinstube, und zwar deswegen Montags, weil um
diesem Tage keine Zeitung erscheint und somit dem einfachen Menschentum Ge¬
legenheit geboten ist, ungestört von den Tagesereignissen der Politik sich aus¬
zubreiten. Neuerdings ist freilich auch dieses Aufatmen dem Ruhebedürftigen
ganz oder wenigstens teilweise abgeschnitten: etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen
der ersten Kapitel von Gutzkows Roman wurde, „um einem dringenden Bedürfnisse
abzuhelfen," eine Zeitung gegründet, die bloß Montags erscheint, und seitdem
suchen auch die audern Tagesblätter die Gunst ihrer Leser sich damit zu sichern,
daß sie auch Montags den politischen und sonstigen Neuigkeitshunger des Pu¬
blikums zu stillen versprechen.

Wer das Bedürfnis fühlt, sich ans dem wirbelnden Treiben der ihn um¬
brandenden Großstadt in einen ruhigen Hafen zu retten, und doch die Fühlung
mit diesem Leben nicht ganz verlieren will, dem bietet sich ein Mittel in den
Schöpfungen eines Dichters, dessen Eigenart es ist, gerade aus diesem Wirrsal
Stoff zu dichterischen Hervorbringungen zu finden, der es versteht, auf dem
unruhigen Hintergrunde des großstädtischen Lebens eine Reihe friedlich idyllischer
Bilder hervorzuzaubern, die den Lärm der Riesenstadt nnr in so gedämpften Wellen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0495" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194473"/>
          <fw type="header" place="top"> Heinrich Seidel,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1819" prev="#ID_1818"> ein elender Brot- und Weinverderber von der strafenden Gerechtigkeit ereilt<lb/>
wird; aber warum sollen die Verderber der Sprache, die Sünder an den geistigen<lb/>
und idealen Gütern der Nation straflos sein?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1820"> (Schluß folgt.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Heinrich Seidel.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1821"> n seinen &#x201E;Neuen Serapionsbrüdern" spricht Gtttzkow einmal von<lb/>
einem eigentümlichen Leiden, das den Großstädter unfehlbar befalle<lb/>
und dus er die Trottoirkrankheit nennt. Der alte Medizinalrat,<lb/>
dem er diese Auseinandersetzung in den Mund legt, bezeichnet<lb/>
damit die Einwirkung jener niemals unterbrochenen Reihe von<lb/>
mißern Eindrücken, denen der auf dem Bürgersteig der Großstadt wandelnde aus¬<lb/>
gesetzt ist, und die, wenn auch im einzelnen verschwindend klein und unbemerkbar,<lb/>
in ihrer Gesamtheit doch den Geist in fortwährender Unrnhe erhalten und so<lb/>
jenen Zustand teils herbeiführen, teils verschlimmern, der unter dem Namen der<lb/>
Nervosität als eine Modekrankheit des jetzigen Geschlechtes im allgemeinen und<lb/>
der Großstädter im besondern bekannt ist. Um sich wöchentlich wenigstens<lb/>
einmal ans dem atemloser Treiben der Großstadt herauszuretteu, versammeln<lb/>
sich in jenem Roman eine Anzahl gleich gesinnter Männer um jedem Montag zu<lb/>
einem Frühtrnnk in einer Weinstube, und zwar deswegen Montags, weil um<lb/>
diesem Tage keine Zeitung erscheint und somit dem einfachen Menschentum Ge¬<lb/>
legenheit geboten ist, ungestört von den Tagesereignissen der Politik sich aus¬<lb/>
zubreiten. Neuerdings ist freilich auch dieses Aufatmen dem Ruhebedürftigen<lb/>
ganz oder wenigstens teilweise abgeschnitten: etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen<lb/>
der ersten Kapitel von Gutzkows Roman wurde, &#x201E;um einem dringenden Bedürfnisse<lb/>
abzuhelfen," eine Zeitung gegründet, die bloß Montags erscheint, und seitdem<lb/>
suchen auch die audern Tagesblätter die Gunst ihrer Leser sich damit zu sichern,<lb/>
daß sie auch Montags den politischen und sonstigen Neuigkeitshunger des Pu¬<lb/>
blikums zu stillen versprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1822" next="#ID_1823"> Wer das Bedürfnis fühlt, sich ans dem wirbelnden Treiben der ihn um¬<lb/>
brandenden Großstadt in einen ruhigen Hafen zu retten, und doch die Fühlung<lb/>
mit diesem Leben nicht ganz verlieren will, dem bietet sich ein Mittel in den<lb/>
Schöpfungen eines Dichters, dessen Eigenart es ist, gerade aus diesem Wirrsal<lb/>
Stoff zu dichterischen Hervorbringungen zu finden, der es versteht, auf dem<lb/>
unruhigen Hintergrunde des großstädtischen Lebens eine Reihe friedlich idyllischer<lb/>
Bilder hervorzuzaubern, die den Lärm der Riesenstadt nnr in so gedämpften Wellen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0495] Heinrich Seidel, ein elender Brot- und Weinverderber von der strafenden Gerechtigkeit ereilt wird; aber warum sollen die Verderber der Sprache, die Sünder an den geistigen und idealen Gütern der Nation straflos sein? (Schluß folgt.) Heinrich Seidel. n seinen „Neuen Serapionsbrüdern" spricht Gtttzkow einmal von einem eigentümlichen Leiden, das den Großstädter unfehlbar befalle und dus er die Trottoirkrankheit nennt. Der alte Medizinalrat, dem er diese Auseinandersetzung in den Mund legt, bezeichnet damit die Einwirkung jener niemals unterbrochenen Reihe von mißern Eindrücken, denen der auf dem Bürgersteig der Großstadt wandelnde aus¬ gesetzt ist, und die, wenn auch im einzelnen verschwindend klein und unbemerkbar, in ihrer Gesamtheit doch den Geist in fortwährender Unrnhe erhalten und so jenen Zustand teils herbeiführen, teils verschlimmern, der unter dem Namen der Nervosität als eine Modekrankheit des jetzigen Geschlechtes im allgemeinen und der Großstädter im besondern bekannt ist. Um sich wöchentlich wenigstens einmal ans dem atemloser Treiben der Großstadt herauszuretteu, versammeln sich in jenem Roman eine Anzahl gleich gesinnter Männer um jedem Montag zu einem Frühtrnnk in einer Weinstube, und zwar deswegen Montags, weil um diesem Tage keine Zeitung erscheint und somit dem einfachen Menschentum Ge¬ legenheit geboten ist, ungestört von den Tagesereignissen der Politik sich aus¬ zubreiten. Neuerdings ist freilich auch dieses Aufatmen dem Ruhebedürftigen ganz oder wenigstens teilweise abgeschnitten: etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten Kapitel von Gutzkows Roman wurde, „um einem dringenden Bedürfnisse abzuhelfen," eine Zeitung gegründet, die bloß Montags erscheint, und seitdem suchen auch die audern Tagesblätter die Gunst ihrer Leser sich damit zu sichern, daß sie auch Montags den politischen und sonstigen Neuigkeitshunger des Pu¬ blikums zu stillen versprechen. Wer das Bedürfnis fühlt, sich ans dem wirbelnden Treiben der ihn um¬ brandenden Großstadt in einen ruhigen Hafen zu retten, und doch die Fühlung mit diesem Leben nicht ganz verlieren will, dem bietet sich ein Mittel in den Schöpfungen eines Dichters, dessen Eigenart es ist, gerade aus diesem Wirrsal Stoff zu dichterischen Hervorbringungen zu finden, der es versteht, auf dem unruhigen Hintergrunde des großstädtischen Lebens eine Reihe friedlich idyllischer Bilder hervorzuzaubern, die den Lärm der Riesenstadt nnr in so gedämpften Wellen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/495
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/495>, abgerufen am 05.05.2024.