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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Heinrich Seidel.

ein unser Ohr schlagen lassen, daß er die zarten Klänge der Leier dnrch den
Gegensatz hebt, nicht übertönt. Der Dichter, der ans diese eigenartige Erscheinung
bietet, dessen idyllischer Sinn durch den Aufenthalt in der großen Stadt eher
geweckt als zurückgedrängt zu sein scheint, ist Heinrich Seidel. Es liegen
von ihm bereits eine ganze Reihe von Schöpfungen vor, kleine Bändchen von
bescheidenem Umfange, die aber eine reiche Fülle erfreulicher Gaben enthalten
und mehr gelaunt zu werdeu verdienen, als es bis jetzt noch der Fall ist.*) Seine
neueste Schöpfung "Jorinde und andre Geschichten" (Leipzig, Liebcskind)
ist bereits die achte in der Reihe seiner Publikationen, von denen nur die "Vor¬
stadtgeschichten" (Berlin, Luckhardt) bis jetzt eine zweite Auflage erlebt haben.
Die andern betiteln sich: "Der Rosenkönig," "Fliegender Sommer," "Aus der
Heimat," "? Humoristische Skizzen"; und zu diesen prosaischen Schriften kommen
noch zwei Gedichtsmumlungen: "Blätter im Winde" und "Winterfliegen" (das
letzte bei Luckhardt, die andern bei Und. Hoffmann in Breslau erschienen). Nur
eins dieser Büchlein bildet ein für sich abgeschlossenes Ganze; es ist sein Erst¬
lingswerk, der "Rosenkönig," das gleich die Eigenart der gesamten Hervorbringung
Seidels ziemlich ausgeprägt ausweist; die andern sind Sammlungen von Märchen,
Schilderungen, Erzählungen -- Sächelchen, die zum Teil sich schwer in eine besondre
Gattung unterbringen lassen, sodaß der Dichter selbst in Verlegenheit über die
Wahl des Titels gerät.

Unter Seidels Schöpfungen sind seine Gedichte das schwächste; es findet
sich darunter manches unbedeutende. Am meisten ragen noch die humoristisch¬
satirischen nud diejenigen hervor, die seine Gabe feiner seelischer Beobachtung
aufweisen, seien es um Jugend- nud Liebeserlebuisse oder Stimmungsbilder aus
dem reiferen Alter. Auch die Naturschilderungen sind hier, wie in seinen audern
Sammlungen, oft sehr ansprechend. Unter seinen prosaischen Schriften nehmen
die geringere Stelle seine Märchen ein. Sie füllen das ganze Bündchen "Fliegender
Sommer," und auch seine "Humoristischen Skizzen" gehören hierher. An zart
poetischen Erfindungen, wie "Erika" oder "Die kleine Marie," fehlt es aber anch
hier nicht; die besten sind die, die in ihrer allegorischen Hülle eine satirische
Spitze verbergen, wie das "Zanberklavicr" unter deu humoristischen Skizzen und
das Phautasiestück "Die Seeschlange."

Sein eigentliches Feld aber sind die Erzählungen und die Studien nach
dem Leben. Hier liegt die Stärke seiner Begabung, Seidel schaut die Wirklichkeit mit
dichterischem Auge und vermag sowohl die Dinge um uns dichterisch zu beleben,
als auch scheinbar ganz gewöhnlichen, mittäglichen Vorkommnissen durch seine
Darstellung ein wirkliches Interesse zu verleihen. Dieser Art sind sein Erstlings-



Gottschalls Literaturgeschichte in ihrer neuesten Auflage und Sterns Lexikon der
deutscheu Litteraturgeschichte kennen Seidel nicht, obwohl seine ersten Schriften bereits 1870
erschienen sind.
Heinrich Seidel.

ein unser Ohr schlagen lassen, daß er die zarten Klänge der Leier dnrch den
Gegensatz hebt, nicht übertönt. Der Dichter, der ans diese eigenartige Erscheinung
bietet, dessen idyllischer Sinn durch den Aufenthalt in der großen Stadt eher
geweckt als zurückgedrängt zu sein scheint, ist Heinrich Seidel. Es liegen
von ihm bereits eine ganze Reihe von Schöpfungen vor, kleine Bändchen von
bescheidenem Umfange, die aber eine reiche Fülle erfreulicher Gaben enthalten
und mehr gelaunt zu werdeu verdienen, als es bis jetzt noch der Fall ist.*) Seine
neueste Schöpfung „Jorinde und andre Geschichten" (Leipzig, Liebcskind)
ist bereits die achte in der Reihe seiner Publikationen, von denen nur die „Vor¬
stadtgeschichten" (Berlin, Luckhardt) bis jetzt eine zweite Auflage erlebt haben.
Die andern betiteln sich: „Der Rosenkönig," „Fliegender Sommer," „Aus der
Heimat," „? Humoristische Skizzen"; und zu diesen prosaischen Schriften kommen
noch zwei Gedichtsmumlungen: „Blätter im Winde" und „Winterfliegen" (das
letzte bei Luckhardt, die andern bei Und. Hoffmann in Breslau erschienen). Nur
eins dieser Büchlein bildet ein für sich abgeschlossenes Ganze; es ist sein Erst¬
lingswerk, der „Rosenkönig," das gleich die Eigenart der gesamten Hervorbringung
Seidels ziemlich ausgeprägt ausweist; die andern sind Sammlungen von Märchen,
Schilderungen, Erzählungen — Sächelchen, die zum Teil sich schwer in eine besondre
Gattung unterbringen lassen, sodaß der Dichter selbst in Verlegenheit über die
Wahl des Titels gerät.

Unter Seidels Schöpfungen sind seine Gedichte das schwächste; es findet
sich darunter manches unbedeutende. Am meisten ragen noch die humoristisch¬
satirischen nud diejenigen hervor, die seine Gabe feiner seelischer Beobachtung
aufweisen, seien es um Jugend- nud Liebeserlebuisse oder Stimmungsbilder aus
dem reiferen Alter. Auch die Naturschilderungen sind hier, wie in seinen audern
Sammlungen, oft sehr ansprechend. Unter seinen prosaischen Schriften nehmen
die geringere Stelle seine Märchen ein. Sie füllen das ganze Bündchen „Fliegender
Sommer," und auch seine „Humoristischen Skizzen" gehören hierher. An zart
poetischen Erfindungen, wie „Erika" oder „Die kleine Marie," fehlt es aber anch
hier nicht; die besten sind die, die in ihrer allegorischen Hülle eine satirische
Spitze verbergen, wie das „Zanberklavicr" unter deu humoristischen Skizzen und
das Phautasiestück „Die Seeschlange."

Sein eigentliches Feld aber sind die Erzählungen und die Studien nach
dem Leben. Hier liegt die Stärke seiner Begabung, Seidel schaut die Wirklichkeit mit
dichterischem Auge und vermag sowohl die Dinge um uns dichterisch zu beleben,
als auch scheinbar ganz gewöhnlichen, mittäglichen Vorkommnissen durch seine
Darstellung ein wirkliches Interesse zu verleihen. Dieser Art sind sein Erstlings-



Gottschalls Literaturgeschichte in ihrer neuesten Auflage und Sterns Lexikon der
deutscheu Litteraturgeschichte kennen Seidel nicht, obwohl seine ersten Schriften bereits 1870
erschienen sind.
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[0496] Heinrich Seidel. ein unser Ohr schlagen lassen, daß er die zarten Klänge der Leier dnrch den Gegensatz hebt, nicht übertönt. Der Dichter, der ans diese eigenartige Erscheinung bietet, dessen idyllischer Sinn durch den Aufenthalt in der großen Stadt eher geweckt als zurückgedrängt zu sein scheint, ist Heinrich Seidel. Es liegen von ihm bereits eine ganze Reihe von Schöpfungen vor, kleine Bändchen von bescheidenem Umfange, die aber eine reiche Fülle erfreulicher Gaben enthalten und mehr gelaunt zu werdeu verdienen, als es bis jetzt noch der Fall ist.*) Seine neueste Schöpfung „Jorinde und andre Geschichten" (Leipzig, Liebcskind) ist bereits die achte in der Reihe seiner Publikationen, von denen nur die „Vor¬ stadtgeschichten" (Berlin, Luckhardt) bis jetzt eine zweite Auflage erlebt haben. Die andern betiteln sich: „Der Rosenkönig," „Fliegender Sommer," „Aus der Heimat," „? Humoristische Skizzen"; und zu diesen prosaischen Schriften kommen noch zwei Gedichtsmumlungen: „Blätter im Winde" und „Winterfliegen" (das letzte bei Luckhardt, die andern bei Und. Hoffmann in Breslau erschienen). Nur eins dieser Büchlein bildet ein für sich abgeschlossenes Ganze; es ist sein Erst¬ lingswerk, der „Rosenkönig," das gleich die Eigenart der gesamten Hervorbringung Seidels ziemlich ausgeprägt ausweist; die andern sind Sammlungen von Märchen, Schilderungen, Erzählungen — Sächelchen, die zum Teil sich schwer in eine besondre Gattung unterbringen lassen, sodaß der Dichter selbst in Verlegenheit über die Wahl des Titels gerät. Unter Seidels Schöpfungen sind seine Gedichte das schwächste; es findet sich darunter manches unbedeutende. Am meisten ragen noch die humoristisch¬ satirischen nud diejenigen hervor, die seine Gabe feiner seelischer Beobachtung aufweisen, seien es um Jugend- nud Liebeserlebuisse oder Stimmungsbilder aus dem reiferen Alter. Auch die Naturschilderungen sind hier, wie in seinen audern Sammlungen, oft sehr ansprechend. Unter seinen prosaischen Schriften nehmen die geringere Stelle seine Märchen ein. Sie füllen das ganze Bündchen „Fliegender Sommer," und auch seine „Humoristischen Skizzen" gehören hierher. An zart poetischen Erfindungen, wie „Erika" oder „Die kleine Marie," fehlt es aber anch hier nicht; die besten sind die, die in ihrer allegorischen Hülle eine satirische Spitze verbergen, wie das „Zanberklavicr" unter deu humoristischen Skizzen und das Phautasiestück „Die Seeschlange." Sein eigentliches Feld aber sind die Erzählungen und die Studien nach dem Leben. Hier liegt die Stärke seiner Begabung, Seidel schaut die Wirklichkeit mit dichterischem Auge und vermag sowohl die Dinge um uns dichterisch zu beleben, als auch scheinbar ganz gewöhnlichen, mittäglichen Vorkommnissen durch seine Darstellung ein wirkliches Interesse zu verleihen. Dieser Art sind sein Erstlings- Gottschalls Literaturgeschichte in ihrer neuesten Auflage und Sterns Lexikon der deutscheu Litteraturgeschichte kennen Seidel nicht, obwohl seine ersten Schriften bereits 1870 erschienen sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/496>, abgerufen am 26.05.2024.