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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Freisinnige Bünden.

n der Einleitung zu seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhun¬
derts bezeichnet es Gervinus als eine charakteristische Eigentüm¬
lichkeit unsrer Zeit, daß in ihr der große Einfluß Einzelner,
Regenten oder Privaten, kaum zum Vorschein komme. Seit Na¬
poleon dem Ersten sei kein wahrhaft hervorragender Geist auf¬
getreten, der die Aufmerksamkeit der Mitlebenden vorzugsweise auf sich hätte
lenken können, kein wahrhaft großer Charakter, der die Geschicke eines Volkes
in seine Hände genommen hätte oder der Vertreter einer ganzen Zeitbestrebung
geworden wäre. Aber darin gerade sieht der Geschichtschreiber die eigentümliche
Größe unsrer Zeit. Der hervorragende Rang der großen Begabung sei in
Abnahme, aber die Zahl der mittleren Begabungen in desto größerer Zunahme
begriffen, im einzelnen geschehe nichts Großes und Erhabenes, aber im ganzen
sei es eine wahrhaft große und erhabene Wendung in der Gestalt des öffent¬
lichen Lebens, daß die Geschichte dieser Zeit nicht bloß Biographien und Fnrsten-
geschichte zu erzählen habe, sondern Völkergeschichte.

Diese Worte hatten zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wurden, zu
Anfang der fünfziger Jahre, einen Schein von Berechtigung insofern, als die
vorangegangenen Jahrzehnte sich in der That erschreckend arm an schöpferischen
Geistern bewiesen hatten. Daß freilich auch die tiefgehendsten Bewegungen eines
ganzen Volkes nicht imstande sind, zu einem gedeihlichen Erfolge zu führen,
wenn sie nicht von einer über die Masse hinausragenden Individualität erfaßt
und geleitet werden, darüber hätte den Heidelberger Professor ein Blick auf das
klägliche Scheitern der auf Herstellung der nationalen Einheit gerichteten Be¬
strebungen in Deutschland und Italien, sowie die vor seinen Augen sich voll¬
ziehenden Vorgänge in Frankreich, wo gerade damals die demokratische Be-


Grenzbvtm I. 1885. 27


Freisinnige Bünden.

n der Einleitung zu seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhun¬
derts bezeichnet es Gervinus als eine charakteristische Eigentüm¬
lichkeit unsrer Zeit, daß in ihr der große Einfluß Einzelner,
Regenten oder Privaten, kaum zum Vorschein komme. Seit Na¬
poleon dem Ersten sei kein wahrhaft hervorragender Geist auf¬
getreten, der die Aufmerksamkeit der Mitlebenden vorzugsweise auf sich hätte
lenken können, kein wahrhaft großer Charakter, der die Geschicke eines Volkes
in seine Hände genommen hätte oder der Vertreter einer ganzen Zeitbestrebung
geworden wäre. Aber darin gerade sieht der Geschichtschreiber die eigentümliche
Größe unsrer Zeit. Der hervorragende Rang der großen Begabung sei in
Abnahme, aber die Zahl der mittleren Begabungen in desto größerer Zunahme
begriffen, im einzelnen geschehe nichts Großes und Erhabenes, aber im ganzen
sei es eine wahrhaft große und erhabene Wendung in der Gestalt des öffent¬
lichen Lebens, daß die Geschichte dieser Zeit nicht bloß Biographien und Fnrsten-
geschichte zu erzählen habe, sondern Völkergeschichte.

Diese Worte hatten zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wurden, zu
Anfang der fünfziger Jahre, einen Schein von Berechtigung insofern, als die
vorangegangenen Jahrzehnte sich in der That erschreckend arm an schöpferischen
Geistern bewiesen hatten. Daß freilich auch die tiefgehendsten Bewegungen eines
ganzen Volkes nicht imstande sind, zu einem gedeihlichen Erfolge zu führen,
wenn sie nicht von einer über die Masse hinausragenden Individualität erfaßt
und geleitet werden, darüber hätte den Heidelberger Professor ein Blick auf das
klägliche Scheitern der auf Herstellung der nationalen Einheit gerichteten Be¬
strebungen in Deutschland und Italien, sowie die vor seinen Augen sich voll¬
ziehenden Vorgänge in Frankreich, wo gerade damals die demokratische Be-


Grenzbvtm I. 1885. 27
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[0221] [Abbildung] Freisinnige Bünden. n der Einleitung zu seiner Geschichte des neunzehnten Jahrhun¬ derts bezeichnet es Gervinus als eine charakteristische Eigentüm¬ lichkeit unsrer Zeit, daß in ihr der große Einfluß Einzelner, Regenten oder Privaten, kaum zum Vorschein komme. Seit Na¬ poleon dem Ersten sei kein wahrhaft hervorragender Geist auf¬ getreten, der die Aufmerksamkeit der Mitlebenden vorzugsweise auf sich hätte lenken können, kein wahrhaft großer Charakter, der die Geschicke eines Volkes in seine Hände genommen hätte oder der Vertreter einer ganzen Zeitbestrebung geworden wäre. Aber darin gerade sieht der Geschichtschreiber die eigentümliche Größe unsrer Zeit. Der hervorragende Rang der großen Begabung sei in Abnahme, aber die Zahl der mittleren Begabungen in desto größerer Zunahme begriffen, im einzelnen geschehe nichts Großes und Erhabenes, aber im ganzen sei es eine wahrhaft große und erhabene Wendung in der Gestalt des öffent¬ lichen Lebens, daß die Geschichte dieser Zeit nicht bloß Biographien und Fnrsten- geschichte zu erzählen habe, sondern Völkergeschichte. Diese Worte hatten zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wurden, zu Anfang der fünfziger Jahre, einen Schein von Berechtigung insofern, als die vorangegangenen Jahrzehnte sich in der That erschreckend arm an schöpferischen Geistern bewiesen hatten. Daß freilich auch die tiefgehendsten Bewegungen eines ganzen Volkes nicht imstande sind, zu einem gedeihlichen Erfolge zu führen, wenn sie nicht von einer über die Masse hinausragenden Individualität erfaßt und geleitet werden, darüber hätte den Heidelberger Professor ein Blick auf das klägliche Scheitern der auf Herstellung der nationalen Einheit gerichteten Be¬ strebungen in Deutschland und Italien, sowie die vor seinen Augen sich voll¬ ziehenden Vorgänge in Frankreich, wo gerade damals die demokratische Be- Grenzbvtm I. 1885. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/221>, abgerufen am 30.04.2024.