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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Aus der französischen Revolution.

it Ägypten waren nach einer Schilderung des Clemens von
Alexandrien die Heiligtümer in den Tempeln dem Beschauer durch
goldgestickte Vorhänge entzogen. Begab er sich nach dein Innern,
um die Statue des Gottes zu suchen, so trat ihm ein Priester
mit ernstem und strengem Antlitz in den Weg und lüftete, indem
er eine Hymne sang, ein wenig den Vorhang, als ob er dem Andächtigen den
Gott zeigen wollte. Aber was erblickte dieser? Ein Krokodil, eine Schlange
oder ein andres gefahrbringendes Tier; der Gott der Ägypter erschien -- es war
ein Ungeheuer auf einem purpurnen Teppich.

In fünf Jahren wird die große französische Revolution ihr hundertjähriges
Stiftungsfest begehen. Der Zeitraum von ncchezn hundert Jahren hat ausge¬
reicht, um über die Ereignisse von 1789 bis zum Sturze des revolutionären
Regiments einen goldgestickten Vorhang zu weben, der dem Volke als das herr¬
liche Symbol seiner Gottheit zur Anbetung gezeigt wird. Noch hente sind es
die Ideen von 1789, welche nicht bloß in Frankreich, sondern auch bei uns
lind in andern Ländern als das Evangelium der Völkerfreiheit gepriesen werden.
Noch heute gilt in den weitesten Kreisen die französische Revolution als der
Sieg des Lichtes über die Finsternis; noch heute wird ihr Untergang als das
Martyrium der hehrsten Freiheitshelden geschildert; noch hente predigt Fort¬
schritt, Sozialdemokratie und Anarchie die jakobinischen Lehren; noch heute wird
die Umwandlung des Parlaments in einen Konvent angestrebt, und den Ar¬
beitern werden die Doktrinen von Robespierre und Baboeuf als einziges Heil-
und Rettungsmittel gegen die verrotteten Zustände der alten Gesellschaft an¬
empfohlen. Schmückt man sich auch nicht mehr mit den Namen der Urheber
oder scheut man sich gar der furchtsame" Bourgeoisie gegenüber, diese zu nennen --
die Lehren sind im großen und ganzen dieselben geblieben, und auch das Ziel
ist kein andres, wenn man es auch nicht auszusprechen wagt. Alle jene Phrasen
von der Volkssouveränetät, von der Herrschaft der Massen, von der Unter¬
drückung durch die Regierer, von der Gleichheit des Besitzes und der Erziehung, von
der Beseitigung jedes Übergewichtes in Reichtum und Intelligenz -- sie üben
noch immer eine berauschende Wirkung, und der goldne Vorhang, hinter welchem
sich die wahre Geschichte birgt, blendet wie früher die Augen.

Das große Verdienst, von der französischen Revolution den Vorhang
heruntergerissen und hinter demselben das Ungetüm in seiner ganzen Rohheit
und Gefährlichkeit bloßgelegt zu haben, hat sich in unsterblicher Weise Taine


Aus der französischen Revolution.

it Ägypten waren nach einer Schilderung des Clemens von
Alexandrien die Heiligtümer in den Tempeln dem Beschauer durch
goldgestickte Vorhänge entzogen. Begab er sich nach dein Innern,
um die Statue des Gottes zu suchen, so trat ihm ein Priester
mit ernstem und strengem Antlitz in den Weg und lüftete, indem
er eine Hymne sang, ein wenig den Vorhang, als ob er dem Andächtigen den
Gott zeigen wollte. Aber was erblickte dieser? Ein Krokodil, eine Schlange
oder ein andres gefahrbringendes Tier; der Gott der Ägypter erschien — es war
ein Ungeheuer auf einem purpurnen Teppich.

In fünf Jahren wird die große französische Revolution ihr hundertjähriges
Stiftungsfest begehen. Der Zeitraum von ncchezn hundert Jahren hat ausge¬
reicht, um über die Ereignisse von 1789 bis zum Sturze des revolutionären
Regiments einen goldgestickten Vorhang zu weben, der dem Volke als das herr¬
liche Symbol seiner Gottheit zur Anbetung gezeigt wird. Noch hente sind es
die Ideen von 1789, welche nicht bloß in Frankreich, sondern auch bei uns
lind in andern Ländern als das Evangelium der Völkerfreiheit gepriesen werden.
Noch heute gilt in den weitesten Kreisen die französische Revolution als der
Sieg des Lichtes über die Finsternis; noch heute wird ihr Untergang als das
Martyrium der hehrsten Freiheitshelden geschildert; noch hente predigt Fort¬
schritt, Sozialdemokratie und Anarchie die jakobinischen Lehren; noch heute wird
die Umwandlung des Parlaments in einen Konvent angestrebt, und den Ar¬
beitern werden die Doktrinen von Robespierre und Baboeuf als einziges Heil-
und Rettungsmittel gegen die verrotteten Zustände der alten Gesellschaft an¬
empfohlen. Schmückt man sich auch nicht mehr mit den Namen der Urheber
oder scheut man sich gar der furchtsame» Bourgeoisie gegenüber, diese zu nennen —
die Lehren sind im großen und ganzen dieselben geblieben, und auch das Ziel
ist kein andres, wenn man es auch nicht auszusprechen wagt. Alle jene Phrasen
von der Volkssouveränetät, von der Herrschaft der Massen, von der Unter¬
drückung durch die Regierer, von der Gleichheit des Besitzes und der Erziehung, von
der Beseitigung jedes Übergewichtes in Reichtum und Intelligenz — sie üben
noch immer eine berauschende Wirkung, und der goldne Vorhang, hinter welchem
sich die wahre Geschichte birgt, blendet wie früher die Augen.

Das große Verdienst, von der französischen Revolution den Vorhang
heruntergerissen und hinter demselben das Ungetüm in seiner ganzen Rohheit
und Gefährlichkeit bloßgelegt zu haben, hat sich in unsterblicher Weise Taine


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[0023] Aus der französischen Revolution. it Ägypten waren nach einer Schilderung des Clemens von Alexandrien die Heiligtümer in den Tempeln dem Beschauer durch goldgestickte Vorhänge entzogen. Begab er sich nach dein Innern, um die Statue des Gottes zu suchen, so trat ihm ein Priester mit ernstem und strengem Antlitz in den Weg und lüftete, indem er eine Hymne sang, ein wenig den Vorhang, als ob er dem Andächtigen den Gott zeigen wollte. Aber was erblickte dieser? Ein Krokodil, eine Schlange oder ein andres gefahrbringendes Tier; der Gott der Ägypter erschien — es war ein Ungeheuer auf einem purpurnen Teppich. In fünf Jahren wird die große französische Revolution ihr hundertjähriges Stiftungsfest begehen. Der Zeitraum von ncchezn hundert Jahren hat ausge¬ reicht, um über die Ereignisse von 1789 bis zum Sturze des revolutionären Regiments einen goldgestickten Vorhang zu weben, der dem Volke als das herr¬ liche Symbol seiner Gottheit zur Anbetung gezeigt wird. Noch hente sind es die Ideen von 1789, welche nicht bloß in Frankreich, sondern auch bei uns lind in andern Ländern als das Evangelium der Völkerfreiheit gepriesen werden. Noch heute gilt in den weitesten Kreisen die französische Revolution als der Sieg des Lichtes über die Finsternis; noch heute wird ihr Untergang als das Martyrium der hehrsten Freiheitshelden geschildert; noch hente predigt Fort¬ schritt, Sozialdemokratie und Anarchie die jakobinischen Lehren; noch heute wird die Umwandlung des Parlaments in einen Konvent angestrebt, und den Ar¬ beitern werden die Doktrinen von Robespierre und Baboeuf als einziges Heil- und Rettungsmittel gegen die verrotteten Zustände der alten Gesellschaft an¬ empfohlen. Schmückt man sich auch nicht mehr mit den Namen der Urheber oder scheut man sich gar der furchtsame» Bourgeoisie gegenüber, diese zu nennen — die Lehren sind im großen und ganzen dieselben geblieben, und auch das Ziel ist kein andres, wenn man es auch nicht auszusprechen wagt. Alle jene Phrasen von der Volkssouveränetät, von der Herrschaft der Massen, von der Unter¬ drückung durch die Regierer, von der Gleichheit des Besitzes und der Erziehung, von der Beseitigung jedes Übergewichtes in Reichtum und Intelligenz — sie üben noch immer eine berauschende Wirkung, und der goldne Vorhang, hinter welchem sich die wahre Geschichte birgt, blendet wie früher die Augen. Das große Verdienst, von der französischen Revolution den Vorhang heruntergerissen und hinter demselben das Ungetüm in seiner ganzen Rohheit und Gefährlichkeit bloßgelegt zu haben, hat sich in unsterblicher Weise Taine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/23>, abgerufen am 01.05.2024.