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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Anna Rarenina.

Darum, meine ich, hat das Jahr 1848 trotz aller Schmach, das es uns
gebracht hat, trotz allem Blute, das es uns gekostet hat, und trotz so manchem
treuen deutschen Herzen, das daran zerbrochen ist, doch unsrer deutschen Ge¬
schichte nicht fehlen dürfen.




Anna Karenina.

raf Leo Tolstoi konnte keinen bessern Anwalt bei uns in Deutsch¬
land finden, als Turgenjew, der kurz vor seinem Tode in Berlin den
Ruhm des jüngern Kollegen und Freundes verkündete, Turgenjew
ging in seiner bekannten, ehrlichen, unaffektirten Bescheidenheit
sogar soweit, Tolstoi über sich selbst zu stellen, dessen Gemütsart
und Weltanschauung er im persönlichen Umgange wohlthuend und das eigne,
so tief in der Melancholie einer grenzenlosen Skepsis vergrabene Gemüt erhebend,
besänftigend, ermutigend hatte kennen lernen. Und es liegt etwas wundersam rüh¬
rendes, ja erschütterndes darin, daß ein Genie wie Turgenjew ein langes Leben
hindurch an einer einseitigen Weltanschauung festhält, aus ihr heraus Werke,
welche die Bewunderung aller Zeitgenossen erregen, produzirt, mit dieser seiner
Weltnnschanung einen bisher noch garnicht zu überschauenden Einfluß auf die
Produktion andrer Belletristen ausübt, sie mit seiner tiefpessiinistischen Stimmung
ansteckt, um am Abend seines Lebens, ja knapp vor Thorschluß im Umgange
mit einem heitern, sittlich edeln, harmonischen Gemüte die Grenzen seiner selbst,
ja vielleicht auch die Unwahrheit seines mit ihm alt gewordenen Systems zu
erkennen! Es ist, als wenn in diesem Erlebnis sich der Geist der Geschichte
offenbart hätte, der alle Einseitigkeit ablehnt und deshalb sich in Gegensätzen
fortbewegt; und auf den Unterschied und, sagen wir es auch gleich, auf den
Vorzug ini Naturell ist es einzig und allein zurückzuführen, daß Turgenjew,
dieser ehrlichste der Schriftsteller, sich so sehr von Tolstoi begeistern ließ. Man
bewundert immer das, was man nicht besitzt, und ist selbst geneigt, es zu über¬
schätzen.

Wir haben bisher leider uur ein Werk des Grafen Leo Tolstoi kennen
gelernt, das ist der soeben in deutscher Übersetzung erschienene Roman: Anna
Karcnina*); aber wir haben die Anerkennung Turgenjews begreifen lernen,
der diesen Autor in die allererste Reihe der europäischen Nomaneiers stellte.
Als Künstler wie als Mensch ist Tolstoi gleich bewundernswert, und in der



*) Anna Kareuina. Roman in sechs Büchern von Graf L. N. Tolstoi. Ans dem
Russischen übersetzt von Paul Wilh. Graff und mit einem Vorwort von Euaen Zabel,
ü Bde. Berlin, Richard WUHelmi, 1885.
Anna Rarenina.

Darum, meine ich, hat das Jahr 1848 trotz aller Schmach, das es uns
gebracht hat, trotz allem Blute, das es uns gekostet hat, und trotz so manchem
treuen deutschen Herzen, das daran zerbrochen ist, doch unsrer deutschen Ge¬
schichte nicht fehlen dürfen.




Anna Karenina.

raf Leo Tolstoi konnte keinen bessern Anwalt bei uns in Deutsch¬
land finden, als Turgenjew, der kurz vor seinem Tode in Berlin den
Ruhm des jüngern Kollegen und Freundes verkündete, Turgenjew
ging in seiner bekannten, ehrlichen, unaffektirten Bescheidenheit
sogar soweit, Tolstoi über sich selbst zu stellen, dessen Gemütsart
und Weltanschauung er im persönlichen Umgange wohlthuend und das eigne,
so tief in der Melancholie einer grenzenlosen Skepsis vergrabene Gemüt erhebend,
besänftigend, ermutigend hatte kennen lernen. Und es liegt etwas wundersam rüh¬
rendes, ja erschütterndes darin, daß ein Genie wie Turgenjew ein langes Leben
hindurch an einer einseitigen Weltanschauung festhält, aus ihr heraus Werke,
welche die Bewunderung aller Zeitgenossen erregen, produzirt, mit dieser seiner
Weltnnschanung einen bisher noch garnicht zu überschauenden Einfluß auf die
Produktion andrer Belletristen ausübt, sie mit seiner tiefpessiinistischen Stimmung
ansteckt, um am Abend seines Lebens, ja knapp vor Thorschluß im Umgange
mit einem heitern, sittlich edeln, harmonischen Gemüte die Grenzen seiner selbst,
ja vielleicht auch die Unwahrheit seines mit ihm alt gewordenen Systems zu
erkennen! Es ist, als wenn in diesem Erlebnis sich der Geist der Geschichte
offenbart hätte, der alle Einseitigkeit ablehnt und deshalb sich in Gegensätzen
fortbewegt; und auf den Unterschied und, sagen wir es auch gleich, auf den
Vorzug ini Naturell ist es einzig und allein zurückzuführen, daß Turgenjew,
dieser ehrlichste der Schriftsteller, sich so sehr von Tolstoi begeistern ließ. Man
bewundert immer das, was man nicht besitzt, und ist selbst geneigt, es zu über¬
schätzen.

Wir haben bisher leider uur ein Werk des Grafen Leo Tolstoi kennen
gelernt, das ist der soeben in deutscher Übersetzung erschienene Roman: Anna
Karcnina*); aber wir haben die Anerkennung Turgenjews begreifen lernen,
der diesen Autor in die allererste Reihe der europäischen Nomaneiers stellte.
Als Künstler wie als Mensch ist Tolstoi gleich bewundernswert, und in der



*) Anna Kareuina. Roman in sechs Büchern von Graf L. N. Tolstoi. Ans dem
Russischen übersetzt von Paul Wilh. Graff und mit einem Vorwort von Euaen Zabel,
ü Bde. Berlin, Richard WUHelmi, 1885.
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[0582] Anna Rarenina. Darum, meine ich, hat das Jahr 1848 trotz aller Schmach, das es uns gebracht hat, trotz allem Blute, das es uns gekostet hat, und trotz so manchem treuen deutschen Herzen, das daran zerbrochen ist, doch unsrer deutschen Ge¬ schichte nicht fehlen dürfen. Anna Karenina. raf Leo Tolstoi konnte keinen bessern Anwalt bei uns in Deutsch¬ land finden, als Turgenjew, der kurz vor seinem Tode in Berlin den Ruhm des jüngern Kollegen und Freundes verkündete, Turgenjew ging in seiner bekannten, ehrlichen, unaffektirten Bescheidenheit sogar soweit, Tolstoi über sich selbst zu stellen, dessen Gemütsart und Weltanschauung er im persönlichen Umgange wohlthuend und das eigne, so tief in der Melancholie einer grenzenlosen Skepsis vergrabene Gemüt erhebend, besänftigend, ermutigend hatte kennen lernen. Und es liegt etwas wundersam rüh¬ rendes, ja erschütterndes darin, daß ein Genie wie Turgenjew ein langes Leben hindurch an einer einseitigen Weltanschauung festhält, aus ihr heraus Werke, welche die Bewunderung aller Zeitgenossen erregen, produzirt, mit dieser seiner Weltnnschanung einen bisher noch garnicht zu überschauenden Einfluß auf die Produktion andrer Belletristen ausübt, sie mit seiner tiefpessiinistischen Stimmung ansteckt, um am Abend seines Lebens, ja knapp vor Thorschluß im Umgange mit einem heitern, sittlich edeln, harmonischen Gemüte die Grenzen seiner selbst, ja vielleicht auch die Unwahrheit seines mit ihm alt gewordenen Systems zu erkennen! Es ist, als wenn in diesem Erlebnis sich der Geist der Geschichte offenbart hätte, der alle Einseitigkeit ablehnt und deshalb sich in Gegensätzen fortbewegt; und auf den Unterschied und, sagen wir es auch gleich, auf den Vorzug ini Naturell ist es einzig und allein zurückzuführen, daß Turgenjew, dieser ehrlichste der Schriftsteller, sich so sehr von Tolstoi begeistern ließ. Man bewundert immer das, was man nicht besitzt, und ist selbst geneigt, es zu über¬ schätzen. Wir haben bisher leider uur ein Werk des Grafen Leo Tolstoi kennen gelernt, das ist der soeben in deutscher Übersetzung erschienene Roman: Anna Karcnina*); aber wir haben die Anerkennung Turgenjews begreifen lernen, der diesen Autor in die allererste Reihe der europäischen Nomaneiers stellte. Als Künstler wie als Mensch ist Tolstoi gleich bewundernswert, und in der *) Anna Kareuina. Roman in sechs Büchern von Graf L. N. Tolstoi. Ans dem Russischen übersetzt von Paul Wilh. Graff und mit einem Vorwort von Euaen Zabel, ü Bde. Berlin, Richard WUHelmi, 1885.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/582>, abgerufen am 01.05.2024.