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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Wie ein Kurort entsteht.

lernen vielmehr seine Größe von neuer Seite bewundern. Wenn er nie eine
Zeile von seinen Gedichten und Dramen geschrieben hätte, so würde er allein
durch seine eignen Aufzeichnungen über sich noch immer als der größte Mann
seiner Nation, als die Blüte der neueren Jahrhunderte erscheinen. Möge daher
sein Leben ein beständiges Vorbild und Studium bleiben, wie er vorahnend von
seinem Humanus aussprach:


Sein Leben wird den köstlichsten Geschichten
Gewiß dereinst von Enkeln gleichgesetzt.



Me ein Kurort entsteht.

uf welche Weise sich Seneca zu einem großen Kapitalisten empor¬
arbeitete, haben die historischen Rechenkünstler mit Genauigkeit
nachzuweisen vermocht. Daß der Diktator Gambetta sich hätte
eines Urgroßvaters rühmen können, der auf den traulichen Ruf¬
namen Gamberle hörte und ein biederer Schwabe war, ist viel¬
leicht kein bloßes Wortspiel. Wir erfahren alles und jedes, wenn
wir es wissen wollen, über die vielgewundenen Lebenswege von Leuten, welche
sich aus der großen Menge menschlicher Nullen zu der Bedeutung von Neun¬
zahlen emporarbeiteten. Aber fertigen und stattlich uns begegnenden oder wohl
gar auf uns hcrabblickenden Dingen ihr Entstehen, ihr mühsames Gcwordensein
abzufragen, will uns nicht immer gelingen, dünkt uns auch häufig eine müßige
Aufgabe, zumal wenn wir zu den Besserwissern zählen, die sich lediglich um
die Frage kümmern, warum denn noch nicht alles bis zum letzten Tüpfelchen
der Vollkommenheit gediehen ist und warum man uns nicht um Rat gefragt hat.

Ich sitze hier in einem Badeorte, der mich durch ein paar Moorbäder
von einem mir plötzlich auf einer Reise angeflogenen sehr schmerzhaften Hüftweh
geheilt hat, und da ich zu den Kurgästen gehöre, deren Dankbarkeit sich nicht
im Bewundern von Frauenkleidern und im Beklatschen von Kurmusikanten
erschöpft, so bin ich liebevoll auf die Suche uach vergilbten Spuren der Ent¬
stehungsgeschichte dieses Hygiea-Asyls gegangen. Was ich ermittelte, sei im
Nachstehenden mitgeteilt. Große Mühe habe ich nicht darauf zu verwenden
brauchen, denn mein Glücksstern führte mich auf einen Vorgänger, der vor drei
Jahrzehnten mit Bienenfleiß alles zusammengetragen hat, was in Kanzleien
der verstäubtesteu Art sich in der Form vou Aktenbündeln allmählich über diesen
Gegenstand gesammelt hatte. Meine Aufgabe bleibt für den vorliegenden Zweck
somit sehr einfach. Ich habe durch das Moor von Protokollen, Gutachten,
Regiermigsrestciptcn, chemischen Analysen u. s. w. mir einen Weg mittels einer
genügenden Anzahl standhaltender Bretter zu densum, damit ich in dem Wüste
nicht versinke, und wenn ich soweit für mein Fortkommen Sorge trug, dann
von Station zu Station das Berichtenswcrte ins Auge zu fassen und in ge¬
drängter Kürze übersichtlich zusammen zu tragen. Irre ich nicht, so wird sich
daraus ein Stück Kulturgeschichte ergeben, dessen unerfreuliche Seiten zahlreich
sind, aber in ihrer häufig humoristisch stimmenden Wirkung den alten Erfahrungs¬
satz bestätigen, daß es uus Menschen gar nicht so übermäßig schwer fällt, die


Wie ein Kurort entsteht.

lernen vielmehr seine Größe von neuer Seite bewundern. Wenn er nie eine
Zeile von seinen Gedichten und Dramen geschrieben hätte, so würde er allein
durch seine eignen Aufzeichnungen über sich noch immer als der größte Mann
seiner Nation, als die Blüte der neueren Jahrhunderte erscheinen. Möge daher
sein Leben ein beständiges Vorbild und Studium bleiben, wie er vorahnend von
seinem Humanus aussprach:


Sein Leben wird den köstlichsten Geschichten
Gewiß dereinst von Enkeln gleichgesetzt.



Me ein Kurort entsteht.

uf welche Weise sich Seneca zu einem großen Kapitalisten empor¬
arbeitete, haben die historischen Rechenkünstler mit Genauigkeit
nachzuweisen vermocht. Daß der Diktator Gambetta sich hätte
eines Urgroßvaters rühmen können, der auf den traulichen Ruf¬
namen Gamberle hörte und ein biederer Schwabe war, ist viel¬
leicht kein bloßes Wortspiel. Wir erfahren alles und jedes, wenn
wir es wissen wollen, über die vielgewundenen Lebenswege von Leuten, welche
sich aus der großen Menge menschlicher Nullen zu der Bedeutung von Neun¬
zahlen emporarbeiteten. Aber fertigen und stattlich uns begegnenden oder wohl
gar auf uns hcrabblickenden Dingen ihr Entstehen, ihr mühsames Gcwordensein
abzufragen, will uns nicht immer gelingen, dünkt uns auch häufig eine müßige
Aufgabe, zumal wenn wir zu den Besserwissern zählen, die sich lediglich um
die Frage kümmern, warum denn noch nicht alles bis zum letzten Tüpfelchen
der Vollkommenheit gediehen ist und warum man uns nicht um Rat gefragt hat.

Ich sitze hier in einem Badeorte, der mich durch ein paar Moorbäder
von einem mir plötzlich auf einer Reise angeflogenen sehr schmerzhaften Hüftweh
geheilt hat, und da ich zu den Kurgästen gehöre, deren Dankbarkeit sich nicht
im Bewundern von Frauenkleidern und im Beklatschen von Kurmusikanten
erschöpft, so bin ich liebevoll auf die Suche uach vergilbten Spuren der Ent¬
stehungsgeschichte dieses Hygiea-Asyls gegangen. Was ich ermittelte, sei im
Nachstehenden mitgeteilt. Große Mühe habe ich nicht darauf zu verwenden
brauchen, denn mein Glücksstern führte mich auf einen Vorgänger, der vor drei
Jahrzehnten mit Bienenfleiß alles zusammengetragen hat, was in Kanzleien
der verstäubtesteu Art sich in der Form vou Aktenbündeln allmählich über diesen
Gegenstand gesammelt hatte. Meine Aufgabe bleibt für den vorliegenden Zweck
somit sehr einfach. Ich habe durch das Moor von Protokollen, Gutachten,
Regiermigsrestciptcn, chemischen Analysen u. s. w. mir einen Weg mittels einer
genügenden Anzahl standhaltender Bretter zu densum, damit ich in dem Wüste
nicht versinke, und wenn ich soweit für mein Fortkommen Sorge trug, dann
von Station zu Station das Berichtenswcrte ins Auge zu fassen und in ge¬
drängter Kürze übersichtlich zusammen zu tragen. Irre ich nicht, so wird sich
daraus ein Stück Kulturgeschichte ergeben, dessen unerfreuliche Seiten zahlreich
sind, aber in ihrer häufig humoristisch stimmenden Wirkung den alten Erfahrungs¬
satz bestätigen, daß es uus Menschen gar nicht so übermäßig schwer fällt, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/346>, abgerufen am 29.04.2024.