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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsplsilosophen.

2. Aber auch fürs Denkleben.

In einer thüringischen Sommerfrische diente uns einmal bei schlechtem
Wetter eine Hühnerfamilie im Hofe zur Unterhaltung, besonders eine Henne
mit ihren Küchlein, deren ziemlich viel waren, wurde uns mit ihrem Treiben
die Heldin des Hoflebens. Da kam denn beim Beobachten auch die Frage:
Ob die Henne auch genau weiß, wie viel sie Küchlein hat? "Gewiß," war
die Antwort. Woher weiß man das? "Sie vermißt jedes einzelne, das sich
verlaufen oder verkrochen hat, und sucht es unruhig." Also ganz mütterlich,
bei so vielen Kindern. Nun möchte man wohl weiter fragen, am liebsten gleich
die Henne selber, wenn es nur ginge: Ob sie denn da auch die Zahl im Kopfe
hat, wie eine Mutter? Uns Menschen scheint das so natürlich oder notwendig.
Aber das gewiß nicht. Zählen kann sie sicher nicht, sie braucht es aber auch nicht,
sie hat die Zahl der Küchlein doch in sich, aber nicht als Wort oder Begriff,
wie der Mensch. Doch nein, den Begriff darf man ihr nicht absprechen, nur
soweit er in einem Worte, hier in einer Zahl ausläuft, aber nicht soweit er
die Vorstellung einschließt, was übrigens die eigentliche und ursprüngliche
Meinung des Begriffes "Begriff" ist. Sie hat alle die einzelnen Kinder als
deutliches Bild in sich, ja als geliebtes Bedürfnis, jedes auch in seinem Sein,
nicht nur uach Form und Farbe, auch nach der Sinnesart, die ja anch bei
Tieren verschieden ist. Und mehr noch, nicht nur die Einzelnen vereinzelt hat sie
so in Liebe und Sorge in sich, anch ihr Zusammen als Schar, das zeigt ihr
Vermissen, wenn die Schar nicht voll ist. So weiß sie zwar nicht die Zahl,
d. h. als Wort, wohl aber die Anzahl ganz genau. Was braucht sie weiter?

"Ja das geht wohl weit mit dem Innenleben des Tieres," sagt vielleicht
jemand, dem die Betrachtung oder Beobachtung neu wäre, "das ist wirklich
schon mehr Geist, als sogenannter Jnstinct, aber man sieht doch die Schranke
des tierischen Bewußtseins und seine Grenze gegen das menschliche, da ihm die
Zahl fehlt!" Schon recht. Aber wenn das nnn ebenso doch auch bei Menschen
vorkommt, nicht bei stumpfsinnigen, sondern bei denkgeübten, gelehrten Menschen?
Der Vorstand einer großen Bibliothek wurde einmal gefragt, wie viel Bücher-
säle er denn habe? Da stutzte er, war halb spaßig verdutzt: "Ach, das weiß
ich nicht einmal, ich habe minds noch nie gefragt." Also doch -- wie die
Henne? Natürlich kannte er jeden einzelnen Saal genau, jede Schwelle, die
aus einem in den andern führt, von hundertfachem Betreten, wie in den einzelnen
Sälen jedes von den großen Vretcrgebäuden mit ihrem gewaltigen Inhalt, aber
nicht die Zahl. Im Bädeker steht sie vermutlich. Wollte man deshalb sagen,
daß dieser die Bibliothek besser kenne, als ihr Vorstand? Oder daß er inner¬
halb der Grenze des menschlichen Bewußtseins stehe, der Vorstand aber noch
außerhalb? Wer auf dem Begriff des menschlichen Bewußtseins scharf bestehen
wollte, müßte das wohl sagen und setzte sich doch damit selbst ins Spaßhafte.


Tagebuchblätter eines Sonntagsplsilosophen.

2. Aber auch fürs Denkleben.

In einer thüringischen Sommerfrische diente uns einmal bei schlechtem
Wetter eine Hühnerfamilie im Hofe zur Unterhaltung, besonders eine Henne
mit ihren Küchlein, deren ziemlich viel waren, wurde uns mit ihrem Treiben
die Heldin des Hoflebens. Da kam denn beim Beobachten auch die Frage:
Ob die Henne auch genau weiß, wie viel sie Küchlein hat? „Gewiß," war
die Antwort. Woher weiß man das? „Sie vermißt jedes einzelne, das sich
verlaufen oder verkrochen hat, und sucht es unruhig." Also ganz mütterlich,
bei so vielen Kindern. Nun möchte man wohl weiter fragen, am liebsten gleich
die Henne selber, wenn es nur ginge: Ob sie denn da auch die Zahl im Kopfe
hat, wie eine Mutter? Uns Menschen scheint das so natürlich oder notwendig.
Aber das gewiß nicht. Zählen kann sie sicher nicht, sie braucht es aber auch nicht,
sie hat die Zahl der Küchlein doch in sich, aber nicht als Wort oder Begriff,
wie der Mensch. Doch nein, den Begriff darf man ihr nicht absprechen, nur
soweit er in einem Worte, hier in einer Zahl ausläuft, aber nicht soweit er
die Vorstellung einschließt, was übrigens die eigentliche und ursprüngliche
Meinung des Begriffes „Begriff" ist. Sie hat alle die einzelnen Kinder als
deutliches Bild in sich, ja als geliebtes Bedürfnis, jedes auch in seinem Sein,
nicht nur uach Form und Farbe, auch nach der Sinnesart, die ja anch bei
Tieren verschieden ist. Und mehr noch, nicht nur die Einzelnen vereinzelt hat sie
so in Liebe und Sorge in sich, anch ihr Zusammen als Schar, das zeigt ihr
Vermissen, wenn die Schar nicht voll ist. So weiß sie zwar nicht die Zahl,
d. h. als Wort, wohl aber die Anzahl ganz genau. Was braucht sie weiter?

„Ja das geht wohl weit mit dem Innenleben des Tieres," sagt vielleicht
jemand, dem die Betrachtung oder Beobachtung neu wäre, „das ist wirklich
schon mehr Geist, als sogenannter Jnstinct, aber man sieht doch die Schranke
des tierischen Bewußtseins und seine Grenze gegen das menschliche, da ihm die
Zahl fehlt!" Schon recht. Aber wenn das nnn ebenso doch auch bei Menschen
vorkommt, nicht bei stumpfsinnigen, sondern bei denkgeübten, gelehrten Menschen?
Der Vorstand einer großen Bibliothek wurde einmal gefragt, wie viel Bücher-
säle er denn habe? Da stutzte er, war halb spaßig verdutzt: „Ach, das weiß
ich nicht einmal, ich habe minds noch nie gefragt." Also doch — wie die
Henne? Natürlich kannte er jeden einzelnen Saal genau, jede Schwelle, die
aus einem in den andern führt, von hundertfachem Betreten, wie in den einzelnen
Sälen jedes von den großen Vretcrgebäuden mit ihrem gewaltigen Inhalt, aber
nicht die Zahl. Im Bädeker steht sie vermutlich. Wollte man deshalb sagen,
daß dieser die Bibliothek besser kenne, als ihr Vorstand? Oder daß er inner¬
halb der Grenze des menschlichen Bewußtseins stehe, der Vorstand aber noch
außerhalb? Wer auf dem Begriff des menschlichen Bewußtseins scharf bestehen
wollte, müßte das wohl sagen und setzte sich doch damit selbst ins Spaßhafte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/37>, abgerufen am 29.04.2024.