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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Elisabeths Erinnerungen.
(Schluß.)

olches Stillehalten war keine leichte Aufgabe. Täglich steigerte
sich mein Wunsch, ein Scherflein zur Lösung der sozialen Frage
beizutragen, und immer mehr wurde ich von der Überzeugung
durchdrungen, daß meine Lieblingsidee richtig sei und zu ver¬
werten sei.

Meine Erfahrungen erweiterten sich durch meine praktische Armenpflege in
ergiebiger Weise. Ich that Einblicke in Verhältnisse, welche für meine allgemeine
Lebensbeurteilung von großer Bedeutung waren. Dabei gab es viel zu denken,
zu beten, zu schreiben und zu rechnen. Fortwährend befanden sich mein Geist
und mein Körper in der größten Thätigkeit. Im Verkehr mit den Armen
gewannen meine Betrachtungen allmählich eine immer festere Gestaltung. Ich
will versuchen, einige derselben zu Papier zu bringen.

Die Triebfeder des natürlichen Menschen ist der Egoismus. Jeder sucht
das Seine. Hierin liegt die Hauptursache des Elends und Jammers ans Erden.
Diesem Gebahren widersetzt sich das Christentum. Es packt die seufzende Menschheit
in ihrem Kernpunkt, und während es sich bemüht, den Egoismus wie ein Unkraut
auszujäten, sucht es der selbstlosen Liebe Eingang in die Herzen der Menschen
zu verschaffen. Nach christlicher Weltanschauung soll das ganze Leben von
einem strahlenden Mittelpunkte aus durchleuchtet und erfüllt werden -- von
der Sonne der Liebe.

Langsam, aber sicher erobert das Christentum die Welt. Nach den Prophe¬
zeiungen sollen im tausendjährigen Reiche Liebe und Friede schon hier ans Erden
zur Herrschaft gelangen; dann wird der alte Drache, der das Seine flicht, ge¬
bunden sein. Wann, dies eintreten wird, wissen wir nicht; daß aber diese Zeit
einmal kommen muß, liegt im Wesen des Christentums selbst begründet. Die


Grenzboten III. 1837. 49


Elisabeths Erinnerungen.
(Schluß.)

olches Stillehalten war keine leichte Aufgabe. Täglich steigerte
sich mein Wunsch, ein Scherflein zur Lösung der sozialen Frage
beizutragen, und immer mehr wurde ich von der Überzeugung
durchdrungen, daß meine Lieblingsidee richtig sei und zu ver¬
werten sei.

Meine Erfahrungen erweiterten sich durch meine praktische Armenpflege in
ergiebiger Weise. Ich that Einblicke in Verhältnisse, welche für meine allgemeine
Lebensbeurteilung von großer Bedeutung waren. Dabei gab es viel zu denken,
zu beten, zu schreiben und zu rechnen. Fortwährend befanden sich mein Geist
und mein Körper in der größten Thätigkeit. Im Verkehr mit den Armen
gewannen meine Betrachtungen allmählich eine immer festere Gestaltung. Ich
will versuchen, einige derselben zu Papier zu bringen.

Die Triebfeder des natürlichen Menschen ist der Egoismus. Jeder sucht
das Seine. Hierin liegt die Hauptursache des Elends und Jammers ans Erden.
Diesem Gebahren widersetzt sich das Christentum. Es packt die seufzende Menschheit
in ihrem Kernpunkt, und während es sich bemüht, den Egoismus wie ein Unkraut
auszujäten, sucht es der selbstlosen Liebe Eingang in die Herzen der Menschen
zu verschaffen. Nach christlicher Weltanschauung soll das ganze Leben von
einem strahlenden Mittelpunkte aus durchleuchtet und erfüllt werden — von
der Sonne der Liebe.

Langsam, aber sicher erobert das Christentum die Welt. Nach den Prophe¬
zeiungen sollen im tausendjährigen Reiche Liebe und Friede schon hier ans Erden
zur Herrschaft gelangen; dann wird der alte Drache, der das Seine flicht, ge¬
bunden sein. Wann, dies eintreten wird, wissen wir nicht; daß aber diese Zeit
einmal kommen muß, liegt im Wesen des Christentums selbst begründet. Die


Grenzboten III. 1837. 49
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[0393] [Abbildung] Elisabeths Erinnerungen. (Schluß.) olches Stillehalten war keine leichte Aufgabe. Täglich steigerte sich mein Wunsch, ein Scherflein zur Lösung der sozialen Frage beizutragen, und immer mehr wurde ich von der Überzeugung durchdrungen, daß meine Lieblingsidee richtig sei und zu ver¬ werten sei. Meine Erfahrungen erweiterten sich durch meine praktische Armenpflege in ergiebiger Weise. Ich that Einblicke in Verhältnisse, welche für meine allgemeine Lebensbeurteilung von großer Bedeutung waren. Dabei gab es viel zu denken, zu beten, zu schreiben und zu rechnen. Fortwährend befanden sich mein Geist und mein Körper in der größten Thätigkeit. Im Verkehr mit den Armen gewannen meine Betrachtungen allmählich eine immer festere Gestaltung. Ich will versuchen, einige derselben zu Papier zu bringen. Die Triebfeder des natürlichen Menschen ist der Egoismus. Jeder sucht das Seine. Hierin liegt die Hauptursache des Elends und Jammers ans Erden. Diesem Gebahren widersetzt sich das Christentum. Es packt die seufzende Menschheit in ihrem Kernpunkt, und während es sich bemüht, den Egoismus wie ein Unkraut auszujäten, sucht es der selbstlosen Liebe Eingang in die Herzen der Menschen zu verschaffen. Nach christlicher Weltanschauung soll das ganze Leben von einem strahlenden Mittelpunkte aus durchleuchtet und erfüllt werden — von der Sonne der Liebe. Langsam, aber sicher erobert das Christentum die Welt. Nach den Prophe¬ zeiungen sollen im tausendjährigen Reiche Liebe und Friede schon hier ans Erden zur Herrschaft gelangen; dann wird der alte Drache, der das Seine flicht, ge¬ bunden sein. Wann, dies eintreten wird, wissen wir nicht; daß aber diese Zeit einmal kommen muß, liegt im Wesen des Christentums selbst begründet. Die Grenzboten III. 1837. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/393>, abgerufen am 28.04.2024.