Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Elisabeths Erinnerungen.

Periode der Glückseligkeit wird anbrechen, sobald aller Menschen Thun und
Lassen ausschließlich von der Liebe beseelt wird.

Die alten Völker erlangten eine Zeit der größten Blüte, dann sanken und
versanken sie. Schwarzseher wähnen, demnächst werde auch das deutsche Volk,
nachdem es jetzt den höchsten Gipfel erreicht habe, seinem Untergange entgegen¬
gehen. Es sind Unken, und ihre Rufe Unkenrufe. Sie ahnen nichts von jenen
ewigen Kräften des Christentums, welche die Völker fortdauernd verjüngen und
immer wieder neue Blüten treiben lassen. O mein geliebtes, deutsches Volk,
vertiefe dich in deinen Glauben, du Volk, das reich an Liebe und Gemüt, so
recht zum Glauben geschaffen ist!

Neben dem Christentume zieht sich durch das Leben der Völker die Ver-
irrung der roten Fahne. Die Farbe weist auf das Blut der Besitzenden hin.
"Von unten nach oben -- zwingen und nehmen" heißen die Stichworte der
Sozialdemokratie, während die christliche Weltordnung das Herabsteigen der
Reichen und Großen zu den Armen und Niederen erheischt. Die Sozial¬
demokratie sagt: Du sollst; die freiwillige Liebe spricht: Ich will. Hinter diesem
Liebeswillen steht aber dennoch ein Muß. Die Liebe kann nicht anders; sie
muß durch Geben und Helfen aus sich heraustreten, wenn sie Liebe sein will.
Es ist ein freiwillig erwähltes Müssen. Ist der Glaube das innere Erlebnis
eines Menschen und die Religion der Liebe die seinige geworden, so muß er
Werke der Liebe verrichten. -- Dessen war ich mir bewußt.

In gleicher Weise hatte ich aber auch die Notwendigkeit erkannt, daß gerade
von diesen Ideen eine richtige Armenpflegerin beseelt sein müsse. Ich sagte mir,
daß die Schwere des ganzen Berufs eine mächtige Grundlage erfordere, eine
feste innere Überzeugung, nicht aber nur die Aufwallung einiger erregten Augen¬
blicke. Ferner war mir aus eigner Erfahrung klar geworden, daß eine Armen-
Pflegerin auch von Krankenpflege mindestens so viel verstehen müsse, um, wenn
Gefahr im Verzug sei, selbst Hilfe leisten zu können. Die Ansicht, daß es zur
Armenpflege nur einer Portion gesunden Menschenverstandes bedürfe, ist un¬
richtig. Die Armut ist eine soziale Krankheit, welche bald dieser, bald jener
Ursache zuzuschreiben ist und zu deren Heilung in ähnlicher Weise bestimmte Kennt¬
nisse erforderlich sind, wie zur richtigen Behandlung eines körperlichen Leidens.

In diese Zeit stillen Nachdenkens und innerer Betrachtungen fiel das äußere
Ereignis, daß wir unsre bisherige Wohnung verlassen mußten. Unser Direktor,
an welchen die Mutter und ich uns immer vertrauensvoller angeschlossen hatten,
gab aus persönlichen Gründen seine Stellung auf, und gemeinsam mit ihm
mußten wir zu Ostern die Dienstwohnung räumen. Er beabsichtigte, seine
Muße zunächst zur Verwirklichung eines lange gehegten Wunsches zu verwenden
und Holland zu bereisen. Seit Jahren hatte er sich mit Vorliebe für hollän¬
dische Literatur und Kunst interessirt. So ähnlich dem Deutschen und doch so
verschieden! pflegte er auszurufen, wenn die Rede darauf kam.


Elisabeths Erinnerungen.

Periode der Glückseligkeit wird anbrechen, sobald aller Menschen Thun und
Lassen ausschließlich von der Liebe beseelt wird.

Die alten Völker erlangten eine Zeit der größten Blüte, dann sanken und
versanken sie. Schwarzseher wähnen, demnächst werde auch das deutsche Volk,
nachdem es jetzt den höchsten Gipfel erreicht habe, seinem Untergange entgegen¬
gehen. Es sind Unken, und ihre Rufe Unkenrufe. Sie ahnen nichts von jenen
ewigen Kräften des Christentums, welche die Völker fortdauernd verjüngen und
immer wieder neue Blüten treiben lassen. O mein geliebtes, deutsches Volk,
vertiefe dich in deinen Glauben, du Volk, das reich an Liebe und Gemüt, so
recht zum Glauben geschaffen ist!

Neben dem Christentume zieht sich durch das Leben der Völker die Ver-
irrung der roten Fahne. Die Farbe weist auf das Blut der Besitzenden hin.
„Von unten nach oben — zwingen und nehmen" heißen die Stichworte der
Sozialdemokratie, während die christliche Weltordnung das Herabsteigen der
Reichen und Großen zu den Armen und Niederen erheischt. Die Sozial¬
demokratie sagt: Du sollst; die freiwillige Liebe spricht: Ich will. Hinter diesem
Liebeswillen steht aber dennoch ein Muß. Die Liebe kann nicht anders; sie
muß durch Geben und Helfen aus sich heraustreten, wenn sie Liebe sein will.
Es ist ein freiwillig erwähltes Müssen. Ist der Glaube das innere Erlebnis
eines Menschen und die Religion der Liebe die seinige geworden, so muß er
Werke der Liebe verrichten. — Dessen war ich mir bewußt.

In gleicher Weise hatte ich aber auch die Notwendigkeit erkannt, daß gerade
von diesen Ideen eine richtige Armenpflegerin beseelt sein müsse. Ich sagte mir,
daß die Schwere des ganzen Berufs eine mächtige Grundlage erfordere, eine
feste innere Überzeugung, nicht aber nur die Aufwallung einiger erregten Augen¬
blicke. Ferner war mir aus eigner Erfahrung klar geworden, daß eine Armen-
Pflegerin auch von Krankenpflege mindestens so viel verstehen müsse, um, wenn
Gefahr im Verzug sei, selbst Hilfe leisten zu können. Die Ansicht, daß es zur
Armenpflege nur einer Portion gesunden Menschenverstandes bedürfe, ist un¬
richtig. Die Armut ist eine soziale Krankheit, welche bald dieser, bald jener
Ursache zuzuschreiben ist und zu deren Heilung in ähnlicher Weise bestimmte Kennt¬
nisse erforderlich sind, wie zur richtigen Behandlung eines körperlichen Leidens.

In diese Zeit stillen Nachdenkens und innerer Betrachtungen fiel das äußere
Ereignis, daß wir unsre bisherige Wohnung verlassen mußten. Unser Direktor,
an welchen die Mutter und ich uns immer vertrauensvoller angeschlossen hatten,
gab aus persönlichen Gründen seine Stellung auf, und gemeinsam mit ihm
mußten wir zu Ostern die Dienstwohnung räumen. Er beabsichtigte, seine
Muße zunächst zur Verwirklichung eines lange gehegten Wunsches zu verwenden
und Holland zu bereisen. Seit Jahren hatte er sich mit Vorliebe für hollän¬
dische Literatur und Kunst interessirt. So ähnlich dem Deutschen und doch so
verschieden! pflegte er auszurufen, wenn die Rede darauf kam.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201173"/>
          <fw type="header" place="top"> Elisabeths Erinnerungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1199" prev="#ID_1198"> Periode der Glückseligkeit wird anbrechen, sobald aller Menschen Thun und<lb/>
Lassen ausschließlich von der Liebe beseelt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1200"> Die alten Völker erlangten eine Zeit der größten Blüte, dann sanken und<lb/>
versanken sie. Schwarzseher wähnen, demnächst werde auch das deutsche Volk,<lb/>
nachdem es jetzt den höchsten Gipfel erreicht habe, seinem Untergange entgegen¬<lb/>
gehen. Es sind Unken, und ihre Rufe Unkenrufe. Sie ahnen nichts von jenen<lb/>
ewigen Kräften des Christentums, welche die Völker fortdauernd verjüngen und<lb/>
immer wieder neue Blüten treiben lassen. O mein geliebtes, deutsches Volk,<lb/>
vertiefe dich in deinen Glauben, du Volk, das reich an Liebe und Gemüt, so<lb/>
recht zum Glauben geschaffen ist!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1201"> Neben dem Christentume zieht sich durch das Leben der Völker die Ver-<lb/>
irrung der roten Fahne. Die Farbe weist auf das Blut der Besitzenden hin.<lb/>
&#x201E;Von unten nach oben &#x2014; zwingen und nehmen" heißen die Stichworte der<lb/>
Sozialdemokratie, während die christliche Weltordnung das Herabsteigen der<lb/>
Reichen und Großen zu den Armen und Niederen erheischt. Die Sozial¬<lb/>
demokratie sagt: Du sollst; die freiwillige Liebe spricht: Ich will. Hinter diesem<lb/>
Liebeswillen steht aber dennoch ein Muß. Die Liebe kann nicht anders; sie<lb/>
muß durch Geben und Helfen aus sich heraustreten, wenn sie Liebe sein will.<lb/>
Es ist ein freiwillig erwähltes Müssen. Ist der Glaube das innere Erlebnis<lb/>
eines Menschen und die Religion der Liebe die seinige geworden, so muß er<lb/>
Werke der Liebe verrichten. &#x2014; Dessen war ich mir bewußt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1202"> In gleicher Weise hatte ich aber auch die Notwendigkeit erkannt, daß gerade<lb/>
von diesen Ideen eine richtige Armenpflegerin beseelt sein müsse. Ich sagte mir,<lb/>
daß die Schwere des ganzen Berufs eine mächtige Grundlage erfordere, eine<lb/>
feste innere Überzeugung, nicht aber nur die Aufwallung einiger erregten Augen¬<lb/>
blicke. Ferner war mir aus eigner Erfahrung klar geworden, daß eine Armen-<lb/>
Pflegerin auch von Krankenpflege mindestens so viel verstehen müsse, um, wenn<lb/>
Gefahr im Verzug sei, selbst Hilfe leisten zu können. Die Ansicht, daß es zur<lb/>
Armenpflege nur einer Portion gesunden Menschenverstandes bedürfe, ist un¬<lb/>
richtig. Die Armut ist eine soziale Krankheit, welche bald dieser, bald jener<lb/>
Ursache zuzuschreiben ist und zu deren Heilung in ähnlicher Weise bestimmte Kennt¬<lb/>
nisse erforderlich sind, wie zur richtigen Behandlung eines körperlichen Leidens.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1203"> In diese Zeit stillen Nachdenkens und innerer Betrachtungen fiel das äußere<lb/>
Ereignis, daß wir unsre bisherige Wohnung verlassen mußten. Unser Direktor,<lb/>
an welchen die Mutter und ich uns immer vertrauensvoller angeschlossen hatten,<lb/>
gab aus persönlichen Gründen seine Stellung auf, und gemeinsam mit ihm<lb/>
mußten wir zu Ostern die Dienstwohnung räumen. Er beabsichtigte, seine<lb/>
Muße zunächst zur Verwirklichung eines lange gehegten Wunsches zu verwenden<lb/>
und Holland zu bereisen. Seit Jahren hatte er sich mit Vorliebe für hollän¬<lb/>
dische Literatur und Kunst interessirt. So ähnlich dem Deutschen und doch so<lb/>
verschieden! pflegte er auszurufen, wenn die Rede darauf kam.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0394] Elisabeths Erinnerungen. Periode der Glückseligkeit wird anbrechen, sobald aller Menschen Thun und Lassen ausschließlich von der Liebe beseelt wird. Die alten Völker erlangten eine Zeit der größten Blüte, dann sanken und versanken sie. Schwarzseher wähnen, demnächst werde auch das deutsche Volk, nachdem es jetzt den höchsten Gipfel erreicht habe, seinem Untergange entgegen¬ gehen. Es sind Unken, und ihre Rufe Unkenrufe. Sie ahnen nichts von jenen ewigen Kräften des Christentums, welche die Völker fortdauernd verjüngen und immer wieder neue Blüten treiben lassen. O mein geliebtes, deutsches Volk, vertiefe dich in deinen Glauben, du Volk, das reich an Liebe und Gemüt, so recht zum Glauben geschaffen ist! Neben dem Christentume zieht sich durch das Leben der Völker die Ver- irrung der roten Fahne. Die Farbe weist auf das Blut der Besitzenden hin. „Von unten nach oben — zwingen und nehmen" heißen die Stichworte der Sozialdemokratie, während die christliche Weltordnung das Herabsteigen der Reichen und Großen zu den Armen und Niederen erheischt. Die Sozial¬ demokratie sagt: Du sollst; die freiwillige Liebe spricht: Ich will. Hinter diesem Liebeswillen steht aber dennoch ein Muß. Die Liebe kann nicht anders; sie muß durch Geben und Helfen aus sich heraustreten, wenn sie Liebe sein will. Es ist ein freiwillig erwähltes Müssen. Ist der Glaube das innere Erlebnis eines Menschen und die Religion der Liebe die seinige geworden, so muß er Werke der Liebe verrichten. — Dessen war ich mir bewußt. In gleicher Weise hatte ich aber auch die Notwendigkeit erkannt, daß gerade von diesen Ideen eine richtige Armenpflegerin beseelt sein müsse. Ich sagte mir, daß die Schwere des ganzen Berufs eine mächtige Grundlage erfordere, eine feste innere Überzeugung, nicht aber nur die Aufwallung einiger erregten Augen¬ blicke. Ferner war mir aus eigner Erfahrung klar geworden, daß eine Armen- Pflegerin auch von Krankenpflege mindestens so viel verstehen müsse, um, wenn Gefahr im Verzug sei, selbst Hilfe leisten zu können. Die Ansicht, daß es zur Armenpflege nur einer Portion gesunden Menschenverstandes bedürfe, ist un¬ richtig. Die Armut ist eine soziale Krankheit, welche bald dieser, bald jener Ursache zuzuschreiben ist und zu deren Heilung in ähnlicher Weise bestimmte Kennt¬ nisse erforderlich sind, wie zur richtigen Behandlung eines körperlichen Leidens. In diese Zeit stillen Nachdenkens und innerer Betrachtungen fiel das äußere Ereignis, daß wir unsre bisherige Wohnung verlassen mußten. Unser Direktor, an welchen die Mutter und ich uns immer vertrauensvoller angeschlossen hatten, gab aus persönlichen Gründen seine Stellung auf, und gemeinsam mit ihm mußten wir zu Ostern die Dienstwohnung räumen. Er beabsichtigte, seine Muße zunächst zur Verwirklichung eines lange gehegten Wunsches zu verwenden und Holland zu bereisen. Seit Jahren hatte er sich mit Vorliebe für hollän¬ dische Literatur und Kunst interessirt. So ähnlich dem Deutschen und doch so verschieden! pflegte er auszurufen, wenn die Rede darauf kam.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/394
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/394>, abgerufen am 14.05.2024.