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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sind ja ihre Welt, die sie auch selbst mit geschaffen hat und mit erhält. Und
wer sich den Vater auch an dieser Stelle denken will, was stünde im Wege?
Und warum uicht auch die Henne? Mag man die Gleichung gelten lassen?
Auch als mehr denn Gedankenspiel? so daß das eine Verhältnis das andere
innerlich deutlicher macht und uns näher zieht? Auch in Bezug ans die Zeit
trifft die Gleichung zu. Denn wie bestimmt auch die Kinder.ihrer Geburtszeit
nach eine Reihe bilden, keinen Kreis, so wird doch der Mutter diese Reihe oder
Linie zum Kreise, da vor ihrer Liebe der Zeitunterschied uicht gilt, er wird ihr
zu etwas Zufälligen, die Liebe steht wie in einem erhöhten Mittelpunkte über
der Zeit, wie über der Zahl.


3. Noch etwas von Worten und ihrem Werte, dabei etwas von Goethe.

Die Gelegenheit ist zu günstig, um nicht gleich auch kurz das Wort mit
seinem Werte unter dem Gesichtspunkte zu beleuchten, wie eben die Zahl. Es
handelt sich hier und dort um ein such denken, wie mans wohl nennen kann
im Unterschied vom Wortdenken, ein Denken, das z. B- die Henne oben ihren
Küchlein gegenüber übt. Auch die Zahl, die sie dabei nicht braucht, ist ja
zugleich ein Wort, das ihrem Kopfe versagt ist, wie Worte überhaupt.

Auch bei Menschen zeigt sich Abneigung gegen Zahlen und Worte, nud
daß sie doch auch ohne diese völlig auskommen. So hört man, da nun aus
Afrika so viel an uns kommt, was die Gedanken in ganz neuer Richtung
beschäftigt, von den Hottentotten, daß sich da selten einer die Mühe nimmt,
seine Viehherde, also seine Habe, zu zählen, aber wenn Abends ein Stück fehlt,
so sieht er das doch und bemerkt: Ich sehe ein Stück, das nicht da ist (ganz
richtig, denn er sieht es in sich). Und wenn es ihrer tausend wären, wird
ausdrücklich angegeben, so bemerkt er das fehlende. Uns ist das unbegreiflich,
Wenns auch mir hundert wären. Es ist aber noch der Standpunkt der Heune
oben, nur auf eine Stufe erhöht, die den höheren Geisteskräften des Menschen
entspricht, hier aber zugleich zu einer Leistung steigt, die über die Geisteskraft
des Culturmenschen so weit hinausgeht, daß wir sie für unmöglich erklären
müßten. Mag es Trägheit sein, die das Zählen langweilig findet, wie es uns
ja auch widerfährt, es ist doch zugleich eine Lebhaftigkeit des Vorstellens dabei
thätig, von der wir hvchgeschulten Europäer keinen Begriff haben und die dem
Hottentotten das Zählen und die Zahl überflüssig macht. Denn er muß doch,
wenn er die Herde prüfend überblickt, als Maßstab die Tiere alle einzeln in
deutlichem Bilde in sich haben und eben darum das Fehlende auch, wie dort
die Henne, er sieht es nur in sich, nicht zugleich außer sich. Denkt man sich
aber solche lebendige innere Vorstellung, zugleich so umfassend, gepaart mit dem
höheren Denken, das uns die Cultur giebt: welcher Leistungen müßte da der
Menschengeist fähig sein! Arbeit dafür gäbe es in unsrer Culturwelt gerade
genug! Man möchte diese Vereinigung gleich unsrer Erziehung als Ziel stecken


Grenzboten III. 1887. ö
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

sind ja ihre Welt, die sie auch selbst mit geschaffen hat und mit erhält. Und
wer sich den Vater auch an dieser Stelle denken will, was stünde im Wege?
Und warum uicht auch die Henne? Mag man die Gleichung gelten lassen?
Auch als mehr denn Gedankenspiel? so daß das eine Verhältnis das andere
innerlich deutlicher macht und uns näher zieht? Auch in Bezug ans die Zeit
trifft die Gleichung zu. Denn wie bestimmt auch die Kinder.ihrer Geburtszeit
nach eine Reihe bilden, keinen Kreis, so wird doch der Mutter diese Reihe oder
Linie zum Kreise, da vor ihrer Liebe der Zeitunterschied uicht gilt, er wird ihr
zu etwas Zufälligen, die Liebe steht wie in einem erhöhten Mittelpunkte über
der Zeit, wie über der Zahl.


3. Noch etwas von Worten und ihrem Werte, dabei etwas von Goethe.

Die Gelegenheit ist zu günstig, um nicht gleich auch kurz das Wort mit
seinem Werte unter dem Gesichtspunkte zu beleuchten, wie eben die Zahl. Es
handelt sich hier und dort um ein such denken, wie mans wohl nennen kann
im Unterschied vom Wortdenken, ein Denken, das z. B- die Henne oben ihren
Küchlein gegenüber übt. Auch die Zahl, die sie dabei nicht braucht, ist ja
zugleich ein Wort, das ihrem Kopfe versagt ist, wie Worte überhaupt.

Auch bei Menschen zeigt sich Abneigung gegen Zahlen und Worte, nud
daß sie doch auch ohne diese völlig auskommen. So hört man, da nun aus
Afrika so viel an uns kommt, was die Gedanken in ganz neuer Richtung
beschäftigt, von den Hottentotten, daß sich da selten einer die Mühe nimmt,
seine Viehherde, also seine Habe, zu zählen, aber wenn Abends ein Stück fehlt,
so sieht er das doch und bemerkt: Ich sehe ein Stück, das nicht da ist (ganz
richtig, denn er sieht es in sich). Und wenn es ihrer tausend wären, wird
ausdrücklich angegeben, so bemerkt er das fehlende. Uns ist das unbegreiflich,
Wenns auch mir hundert wären. Es ist aber noch der Standpunkt der Heune
oben, nur auf eine Stufe erhöht, die den höheren Geisteskräften des Menschen
entspricht, hier aber zugleich zu einer Leistung steigt, die über die Geisteskraft
des Culturmenschen so weit hinausgeht, daß wir sie für unmöglich erklären
müßten. Mag es Trägheit sein, die das Zählen langweilig findet, wie es uns
ja auch widerfährt, es ist doch zugleich eine Lebhaftigkeit des Vorstellens dabei
thätig, von der wir hvchgeschulten Europäer keinen Begriff haben und die dem
Hottentotten das Zählen und die Zahl überflüssig macht. Denn er muß doch,
wenn er die Herde prüfend überblickt, als Maßstab die Tiere alle einzeln in
deutlichem Bilde in sich haben und eben darum das Fehlende auch, wie dort
die Henne, er sieht es nur in sich, nicht zugleich außer sich. Denkt man sich
aber solche lebendige innere Vorstellung, zugleich so umfassend, gepaart mit dem
höheren Denken, das uns die Cultur giebt: welcher Leistungen müßte da der
Menschengeist fähig sein! Arbeit dafür gäbe es in unsrer Culturwelt gerade
genug! Man möchte diese Vereinigung gleich unsrer Erziehung als Ziel stecken


Grenzboten III. 1887. ö
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/41>, abgerufen am 28.04.2024.