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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

uotivendig einschließt, zumal in Anwendung auf menschliche Dinge, für die das
Ganze bei Goethe ebenso gilt wie für die Naturdinge. Ja auch bei diesen
geht es da nicht ohne Empfinden ab, das kann schon sein Wort vom Pflanzen-
stengel oben zeigen, wo das Anschauen schon mehr ein Empfinden ist, sodaß
er sich in den Stengel gleichsam vorübergehend hinein lebt und diesen in sich
herein. Man muß es selbst treu probiren, um sich zu überzeugen, und steht
dann auf dem Punkte oder der Linie, von wo aus Goethes Denken überhaupt
allein zu begreifen ist.

Ist das aber nicht, recht hingesehen, dieselbe Linie, auf der uns der Schäfer
begegnete, ja dieselbe, auf der wir den Hottentotten fanden und -- die Henne?
Es ist ein geistiges Verhalten zur Außenwelt, das jetzt gern nud gut auch mit
,,Unmittelbarkeit" bezeichnet wird, ein Sachdentcn für Wortdenlcn. mehr ein
Empfinden als ein Denken, oder beide in einem dritten höheren ausgehend. Den
Gradunterschied von der Henne her bis zu Goethe hin denke man sich so
groß als man mag, mit Spielraum meinetwegen zwischen eins und einer Million
oder wer noch mehr will, aber ein Artunterschied ist nicht auf der ganzen Linie.
Ich kanns nicht anders sehen.


4. Und noch etwas von Zahl und Rechnen, dabei auch von Gott.

Die Gelegenheit ist auch zu günstig, um nicht noch etwas eigentümlich
Fragliches gleich kurz zur Sprache zu bringen, das im Zusammenhange des
Vorigen vielleicht von selbst mit seine Antwort finden kann.

Als Knabe erstaunte ich und erschrak über den Gedanken, der irgendwie
an mich geflogen kam, vielleicht von einem ältern Mitschüler, Gott könne doch
nicht machen, daß z. B. 2 mal 2 gleich 6 sei. Es war, als ob damit ein
Grnndbalkcu der Welt, wie sie vor uns vom Lehrer aufgebaut wurde, einen
unheilbaren Knick bekommen Hütte, daß alles wanken wollte. Ich habe mich
nachher, ohne weitere Grübelei, doch darüber beruhigt, die Frage, die damit
aufgeworfen war, trocknete mir gleichsam von selber ein. Aber überhaupt ein¬
getrocknet ist sie doch noch nicht, man begegnet ihr noch, oder vielmehr jener
Behauptung als sicherer Antwort, in einem gewissen Gedankengange, der auch
im philosophischen Denken noch eine überlieferte Geltung hat. Es ist aber,
genau zugesehen, und wenn man aus jener Gedankenlinie heraustritt, gleichsam
zur Seite, um ihren Verlauf besser zu übersehen, doch nur eine Wortfrage,
keine Sachfrage, und Wvrtdcnken, nicht Sachdcuken.

Gott rechnend, mit Zahlen rechnend gedacht? Damit macht man ihn doch
zum Menschen, jn zum Schulmenschcn, Lehrer oder Schüler? Den" ans der
Schule, aus bloßen Schulgedanken kann allein das ganze Rechenexempel stammen,
mau setzt Gott damit eigentlich auf die Schulbank und legt ihm, wie der Lehrer
dein Schüler, eine Querfrage vor, die ihn irre führen soll und dnrch den etwa
begangenen und erkannten Irrtum zur Wahrheit, zur Erkenntnis, hier zur Er-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

uotivendig einschließt, zumal in Anwendung auf menschliche Dinge, für die das
Ganze bei Goethe ebenso gilt wie für die Naturdinge. Ja auch bei diesen
geht es da nicht ohne Empfinden ab, das kann schon sein Wort vom Pflanzen-
stengel oben zeigen, wo das Anschauen schon mehr ein Empfinden ist, sodaß
er sich in den Stengel gleichsam vorübergehend hinein lebt und diesen in sich
herein. Man muß es selbst treu probiren, um sich zu überzeugen, und steht
dann auf dem Punkte oder der Linie, von wo aus Goethes Denken überhaupt
allein zu begreifen ist.

Ist das aber nicht, recht hingesehen, dieselbe Linie, auf der uns der Schäfer
begegnete, ja dieselbe, auf der wir den Hottentotten fanden und — die Henne?
Es ist ein geistiges Verhalten zur Außenwelt, das jetzt gern nud gut auch mit
,,Unmittelbarkeit" bezeichnet wird, ein Sachdentcn für Wortdenlcn. mehr ein
Empfinden als ein Denken, oder beide in einem dritten höheren ausgehend. Den
Gradunterschied von der Henne her bis zu Goethe hin denke man sich so
groß als man mag, mit Spielraum meinetwegen zwischen eins und einer Million
oder wer noch mehr will, aber ein Artunterschied ist nicht auf der ganzen Linie.
Ich kanns nicht anders sehen.


4. Und noch etwas von Zahl und Rechnen, dabei auch von Gott.

Die Gelegenheit ist auch zu günstig, um nicht noch etwas eigentümlich
Fragliches gleich kurz zur Sprache zu bringen, das im Zusammenhange des
Vorigen vielleicht von selbst mit seine Antwort finden kann.

Als Knabe erstaunte ich und erschrak über den Gedanken, der irgendwie
an mich geflogen kam, vielleicht von einem ältern Mitschüler, Gott könne doch
nicht machen, daß z. B. 2 mal 2 gleich 6 sei. Es war, als ob damit ein
Grnndbalkcu der Welt, wie sie vor uns vom Lehrer aufgebaut wurde, einen
unheilbaren Knick bekommen Hütte, daß alles wanken wollte. Ich habe mich
nachher, ohne weitere Grübelei, doch darüber beruhigt, die Frage, die damit
aufgeworfen war, trocknete mir gleichsam von selber ein. Aber überhaupt ein¬
getrocknet ist sie doch noch nicht, man begegnet ihr noch, oder vielmehr jener
Behauptung als sicherer Antwort, in einem gewissen Gedankengange, der auch
im philosophischen Denken noch eine überlieferte Geltung hat. Es ist aber,
genau zugesehen, und wenn man aus jener Gedankenlinie heraustritt, gleichsam
zur Seite, um ihren Verlauf besser zu übersehen, doch nur eine Wortfrage,
keine Sachfrage, und Wvrtdcnken, nicht Sachdcuken.

Gott rechnend, mit Zahlen rechnend gedacht? Damit macht man ihn doch
zum Menschen, jn zum Schulmenschcn, Lehrer oder Schüler? Den» ans der
Schule, aus bloßen Schulgedanken kann allein das ganze Rechenexempel stammen,
mau setzt Gott damit eigentlich auf die Schulbank und legt ihm, wie der Lehrer
dein Schüler, eine Querfrage vor, die ihn irre führen soll und dnrch den etwa
begangenen und erkannten Irrtum zur Wahrheit, zur Erkenntnis, hier zur Er-


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[0044] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. uotivendig einschließt, zumal in Anwendung auf menschliche Dinge, für die das Ganze bei Goethe ebenso gilt wie für die Naturdinge. Ja auch bei diesen geht es da nicht ohne Empfinden ab, das kann schon sein Wort vom Pflanzen- stengel oben zeigen, wo das Anschauen schon mehr ein Empfinden ist, sodaß er sich in den Stengel gleichsam vorübergehend hinein lebt und diesen in sich herein. Man muß es selbst treu probiren, um sich zu überzeugen, und steht dann auf dem Punkte oder der Linie, von wo aus Goethes Denken überhaupt allein zu begreifen ist. Ist das aber nicht, recht hingesehen, dieselbe Linie, auf der uns der Schäfer begegnete, ja dieselbe, auf der wir den Hottentotten fanden und — die Henne? Es ist ein geistiges Verhalten zur Außenwelt, das jetzt gern nud gut auch mit ,,Unmittelbarkeit" bezeichnet wird, ein Sachdentcn für Wortdenlcn. mehr ein Empfinden als ein Denken, oder beide in einem dritten höheren ausgehend. Den Gradunterschied von der Henne her bis zu Goethe hin denke man sich so groß als man mag, mit Spielraum meinetwegen zwischen eins und einer Million oder wer noch mehr will, aber ein Artunterschied ist nicht auf der ganzen Linie. Ich kanns nicht anders sehen. 4. Und noch etwas von Zahl und Rechnen, dabei auch von Gott. Die Gelegenheit ist auch zu günstig, um nicht noch etwas eigentümlich Fragliches gleich kurz zur Sprache zu bringen, das im Zusammenhange des Vorigen vielleicht von selbst mit seine Antwort finden kann. Als Knabe erstaunte ich und erschrak über den Gedanken, der irgendwie an mich geflogen kam, vielleicht von einem ältern Mitschüler, Gott könne doch nicht machen, daß z. B. 2 mal 2 gleich 6 sei. Es war, als ob damit ein Grnndbalkcu der Welt, wie sie vor uns vom Lehrer aufgebaut wurde, einen unheilbaren Knick bekommen Hütte, daß alles wanken wollte. Ich habe mich nachher, ohne weitere Grübelei, doch darüber beruhigt, die Frage, die damit aufgeworfen war, trocknete mir gleichsam von selber ein. Aber überhaupt ein¬ getrocknet ist sie doch noch nicht, man begegnet ihr noch, oder vielmehr jener Behauptung als sicherer Antwort, in einem gewissen Gedankengange, der auch im philosophischen Denken noch eine überlieferte Geltung hat. Es ist aber, genau zugesehen, und wenn man aus jener Gedankenlinie heraustritt, gleichsam zur Seite, um ihren Verlauf besser zu übersehen, doch nur eine Wortfrage, keine Sachfrage, und Wvrtdcnken, nicht Sachdcuken. Gott rechnend, mit Zahlen rechnend gedacht? Damit macht man ihn doch zum Menschen, jn zum Schulmenschcn, Lehrer oder Schüler? Den» ans der Schule, aus bloßen Schulgedanken kann allein das ganze Rechenexempel stammen, mau setzt Gott damit eigentlich auf die Schulbank und legt ihm, wie der Lehrer dein Schüler, eine Querfrage vor, die ihn irre führen soll und dnrch den etwa begangenen und erkannten Irrtum zur Wahrheit, zur Erkenntnis, hier zur Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/44>, abgerufen am 28.04.2024.