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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

heures, Schwieriges, selbst drohendes Unglück, wenn es groß ist, zieht uns in
die Kreise eines großen Lebens hinein, in denen die Dinge selber ganz anders
an uns kommen, genauer in uns herein kommen, als in dem stillen Verlauf
des gewöhnlichen kleinen Lebens, wo die Kreise sich auch ins Kleine eindrehen,
die das Leben in uns zieht. Ju solchen Zeiten gewinnt das Wort ein ganz
andres Wesen den Dingen gegenüber: mit wenig Worten sagt man da dem
Andern dick, weil er von den Dingen selber auch voll ist, während sonst so oft
viel Worte, ja ganze Bücher voll uns so wenig sagen. Die Worte werden
uns dann wie zu bloßen dünnen Schalen für die Dinge, die lebendig gegen¬
wärtig in den Seelen walten, während sie sonst leicht an den Dingen die Haupt¬
sache sein, ja diese völlig vertreten wollen. In so recht glücklichen Tagen sind
sie wie reife Weinbeeren von bester Sorte, wo die Schale so dünn geworden
ist, daß sie eben ausreicht, um den strotzenden köstlichen Saft noch zusammen¬
zuhalten, während sie in gewöhnlichen Tagen dickschaligen halbreifen Beeren
gleichen, deren man viel kauen muß, um so viel Saft zu schmecken und doch
nicht so guten, wie dort in einer Beere. In solchen Tagen und Stunden sind
wir auch ganz anders Herr der Worte, die sonst gern unsre Herren sein wollen.
Die rechten Worte kommen uns da spielend mühelos aus der Fülle des Lebens
in uns, für dessen Ausdruck sie doch nicht ausreichen, das Beste dabei thun
Mienen, Blicke, Stimme, die den vollen Lebensgehalt ergänzen und Worte
gar nicht brauchen. Denn, wie es in Wilhelm Meisters Lehrbrief heißt, "das
Beste wird nicht deutlich durch Worte," vollends durch bloß geschriebene, denn
"das Wort erstirbt schon in der Feder."

Da treffen wir denn auch Goethen mit vollem Bewußtsein auf dieser Spur
des Sachdenkens für das Wvrtdenken, der doch des Wortes so gewaltig war.
Es ist sein "gegenständliches Denken," wie es Heinroth an seiner Art der
Naturbetrachtung beobachtete, und so benannte unter dein lebhaften Beifall des
Dichters, der sich dadurch "bedeutend gefördert" fühlte."') Er giebt aus Hein-
roths ausführlicher Schilderung von der eigentümlichen Art seines Denkver¬
mögens als das wesentliche die Worte, "daß mein Denken sich von den Gegen¬
ständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in
dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß
mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei" -- also
leine Worte zwischen den Dingen und Goethes Geiste, auch keine Abstraktionen,
Theorien, Axiome, Begriffe u. f. w., die an überlieferte Worte gebunden sind,
beide vielmehr, sein Geist und die Gegenstände, in einer unmittelbaren Be¬
rührung oder genauer in einem Ineinander, in das die Berührung übergeht
und das daher außer der allein genannten Anschauung auch ein Empfinden



*) S. den Aussatz "Bedeutende Förderuis durch ein einziges geistreiches Wort" in
Hempels Ausg. 27, 3S1.
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

heures, Schwieriges, selbst drohendes Unglück, wenn es groß ist, zieht uns in
die Kreise eines großen Lebens hinein, in denen die Dinge selber ganz anders
an uns kommen, genauer in uns herein kommen, als in dem stillen Verlauf
des gewöhnlichen kleinen Lebens, wo die Kreise sich auch ins Kleine eindrehen,
die das Leben in uns zieht. Ju solchen Zeiten gewinnt das Wort ein ganz
andres Wesen den Dingen gegenüber: mit wenig Worten sagt man da dem
Andern dick, weil er von den Dingen selber auch voll ist, während sonst so oft
viel Worte, ja ganze Bücher voll uns so wenig sagen. Die Worte werden
uns dann wie zu bloßen dünnen Schalen für die Dinge, die lebendig gegen¬
wärtig in den Seelen walten, während sie sonst leicht an den Dingen die Haupt¬
sache sein, ja diese völlig vertreten wollen. In so recht glücklichen Tagen sind
sie wie reife Weinbeeren von bester Sorte, wo die Schale so dünn geworden
ist, daß sie eben ausreicht, um den strotzenden köstlichen Saft noch zusammen¬
zuhalten, während sie in gewöhnlichen Tagen dickschaligen halbreifen Beeren
gleichen, deren man viel kauen muß, um so viel Saft zu schmecken und doch
nicht so guten, wie dort in einer Beere. In solchen Tagen und Stunden sind
wir auch ganz anders Herr der Worte, die sonst gern unsre Herren sein wollen.
Die rechten Worte kommen uns da spielend mühelos aus der Fülle des Lebens
in uns, für dessen Ausdruck sie doch nicht ausreichen, das Beste dabei thun
Mienen, Blicke, Stimme, die den vollen Lebensgehalt ergänzen und Worte
gar nicht brauchen. Denn, wie es in Wilhelm Meisters Lehrbrief heißt, „das
Beste wird nicht deutlich durch Worte," vollends durch bloß geschriebene, denn
„das Wort erstirbt schon in der Feder."

Da treffen wir denn auch Goethen mit vollem Bewußtsein auf dieser Spur
des Sachdenkens für das Wvrtdenken, der doch des Wortes so gewaltig war.
Es ist sein „gegenständliches Denken," wie es Heinroth an seiner Art der
Naturbetrachtung beobachtete, und so benannte unter dein lebhaften Beifall des
Dichters, der sich dadurch „bedeutend gefördert" fühlte."') Er giebt aus Hein-
roths ausführlicher Schilderung von der eigentümlichen Art seines Denkver¬
mögens als das wesentliche die Worte, „daß mein Denken sich von den Gegen¬
ständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in
dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß
mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei" — also
leine Worte zwischen den Dingen und Goethes Geiste, auch keine Abstraktionen,
Theorien, Axiome, Begriffe u. f. w., die an überlieferte Worte gebunden sind,
beide vielmehr, sein Geist und die Gegenstände, in einer unmittelbaren Be¬
rührung oder genauer in einem Ineinander, in das die Berührung übergeht
und das daher außer der allein genannten Anschauung auch ein Empfinden



*) S. den Aussatz „Bedeutende Förderuis durch ein einziges geistreiches Wort" in
Hempels Ausg. 27, 3S1.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/43>, abgerufen am 14.05.2024.