Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus einer Ameisenstadt.

in Folgenden komme ich auf ein Thema zurück, über das ich den
Lesern der Grenzboten schon einmal berichtet habe, das aber so
interessant und so unerschöpflich ist, daß es eine Rückkehr zu ihm
recht wohl zu vertragen scheint. Den Anlaß zu nochmaliger Be¬
schäftigung mit ihm giebt die Veröffentlichung neuer Beobach¬
tungen, welche John Lubbock, gegenwärtig der beste Kenner des Gegenstandes,
gemacht und zunächst in einem Vortrage mitgeteilt hat, den er vor einigen
Monaten im ^VorlcinA Usus Lollo^g zu London hielt, und in dem er unter
anderm ein sinnreiches Mittel beschrieb, mit dem wir seine Angaben über das
Leben der Ameise und diejenigen früherer Entomologen wie Huber, de Gcers,
Latreille, Kirby und Spence auf ihre Richtigkeit prüfen können. Wir wissen
bereits aus seinem großen Werke ^mes, ^VÄsps g.na Less, daß er auf sehr ver¬
trautem Fuße mit einem Teile der Insektenwelt lebt, und wir erfahren hier,
daß er eine Wespe besitzt oder bis vor kurzem besaß, die seit elf Jahren seine
intime Freundin war. Aber am gründlichsten und erfolgreichsten scheint er sich
doch mit der Seele, der Lebensweise, den Tugenden, den Arbeiten und Sitten
des wunderbaren Tiervölkchens beschäftigt zu haben, auf welches uns die Bibel
mit den Worten hinweist: "Gehe hin zur Ameise und lerne von ihr." Dieser
Spruch richtet sich eigentlich nur an den Trägen, dem er den Fleiß der Ameise
zur Betrachtung und Nachahmung empfiehlt. Die Wissenschaft aber hat auch
andre Seiten ins Auge gefaßt und dabei entdeckt, daß dieses winzige Geschöpf
eins der größten Wunder und Rätsel der Tierwelt ist. Sehen wir von den ver¬
gleichsweise riesenhaften Ameisen Indiens und andrer Tropenländer sowie von
den weißen Ameisen ab, welche zu den Netz- oder Gitterflüglern gehören, und
werfen wir nur ein paar Blicke auf unsre heimischen Arten -- wie erstaunlich
erscheint uns da die körperliche und geistige Kraft, der Verstand und der Wille,
welche in einen solchen winzigen Leib zusammengedrängt sind! Weit mehr als
athletische Stärke, die in Milvus Gestalt einen Ochsen forttrug, zeigt die Ameise,
die mit Leichtigkeit einen Gegenstand zehnmal schwerer als ihr eignes Gewicht
eine Strecke tausendmal so lang als sie selbst von dannen schleppt. Doch
wundert uns dies nicht so sehr, wenn wir uns erinnern, daß eine Raupe eine
Glasglocke, unter die wir sie legen und die wir überdies mit einem zehnpfün-
digen Steine beschweren, zu heben und unter dem Rande weg zu entkommen
vermag, oder daß ein Floh eine Sprungkraft zeigt, welche ihn, wenn er ein
Pferd wäre und diese Kraft im Verhältnisse zur Größe eines solchen besäße,
mit einem Satze über die Türme des Kölner Domes und dem ganzen damit


Aus einer Ameisenstadt.

in Folgenden komme ich auf ein Thema zurück, über das ich den
Lesern der Grenzboten schon einmal berichtet habe, das aber so
interessant und so unerschöpflich ist, daß es eine Rückkehr zu ihm
recht wohl zu vertragen scheint. Den Anlaß zu nochmaliger Be¬
schäftigung mit ihm giebt die Veröffentlichung neuer Beobach¬
tungen, welche John Lubbock, gegenwärtig der beste Kenner des Gegenstandes,
gemacht und zunächst in einem Vortrage mitgeteilt hat, den er vor einigen
Monaten im ^VorlcinA Usus Lollo^g zu London hielt, und in dem er unter
anderm ein sinnreiches Mittel beschrieb, mit dem wir seine Angaben über das
Leben der Ameise und diejenigen früherer Entomologen wie Huber, de Gcers,
Latreille, Kirby und Spence auf ihre Richtigkeit prüfen können. Wir wissen
bereits aus seinem großen Werke ^mes, ^VÄsps g.na Less, daß er auf sehr ver¬
trautem Fuße mit einem Teile der Insektenwelt lebt, und wir erfahren hier,
daß er eine Wespe besitzt oder bis vor kurzem besaß, die seit elf Jahren seine
intime Freundin war. Aber am gründlichsten und erfolgreichsten scheint er sich
doch mit der Seele, der Lebensweise, den Tugenden, den Arbeiten und Sitten
des wunderbaren Tiervölkchens beschäftigt zu haben, auf welches uns die Bibel
mit den Worten hinweist: „Gehe hin zur Ameise und lerne von ihr." Dieser
Spruch richtet sich eigentlich nur an den Trägen, dem er den Fleiß der Ameise
zur Betrachtung und Nachahmung empfiehlt. Die Wissenschaft aber hat auch
andre Seiten ins Auge gefaßt und dabei entdeckt, daß dieses winzige Geschöpf
eins der größten Wunder und Rätsel der Tierwelt ist. Sehen wir von den ver¬
gleichsweise riesenhaften Ameisen Indiens und andrer Tropenländer sowie von
den weißen Ameisen ab, welche zu den Netz- oder Gitterflüglern gehören, und
werfen wir nur ein paar Blicke auf unsre heimischen Arten — wie erstaunlich
erscheint uns da die körperliche und geistige Kraft, der Verstand und der Wille,
welche in einen solchen winzigen Leib zusammengedrängt sind! Weit mehr als
athletische Stärke, die in Milvus Gestalt einen Ochsen forttrug, zeigt die Ameise,
die mit Leichtigkeit einen Gegenstand zehnmal schwerer als ihr eignes Gewicht
eine Strecke tausendmal so lang als sie selbst von dannen schleppt. Doch
wundert uns dies nicht so sehr, wenn wir uns erinnern, daß eine Raupe eine
Glasglocke, unter die wir sie legen und die wir überdies mit einem zehnpfün-
digen Steine beschweren, zu heben und unter dem Rande weg zu entkommen
vermag, oder daß ein Floh eine Sprungkraft zeigt, welche ihn, wenn er ein
Pferd wäre und diese Kraft im Verhältnisse zur Größe eines solchen besäße,
mit einem Satze über die Türme des Kölner Domes und dem ganzen damit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0636" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201415"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus einer Ameisenstadt.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2064" next="#ID_2065"> in Folgenden komme ich auf ein Thema zurück, über das ich den<lb/>
Lesern der Grenzboten schon einmal berichtet habe, das aber so<lb/>
interessant und so unerschöpflich ist, daß es eine Rückkehr zu ihm<lb/>
recht wohl zu vertragen scheint. Den Anlaß zu nochmaliger Be¬<lb/>
schäftigung mit ihm giebt die Veröffentlichung neuer Beobach¬<lb/>
tungen, welche John Lubbock, gegenwärtig der beste Kenner des Gegenstandes,<lb/>
gemacht und zunächst in einem Vortrage mitgeteilt hat, den er vor einigen<lb/>
Monaten im ^VorlcinA Usus Lollo^g zu London hielt, und in dem er unter<lb/>
anderm ein sinnreiches Mittel beschrieb, mit dem wir seine Angaben über das<lb/>
Leben der Ameise und diejenigen früherer Entomologen wie Huber, de Gcers,<lb/>
Latreille, Kirby und Spence auf ihre Richtigkeit prüfen können. Wir wissen<lb/>
bereits aus seinem großen Werke ^mes, ^VÄsps g.na Less, daß er auf sehr ver¬<lb/>
trautem Fuße mit einem Teile der Insektenwelt lebt, und wir erfahren hier,<lb/>
daß er eine Wespe besitzt oder bis vor kurzem besaß, die seit elf Jahren seine<lb/>
intime Freundin war. Aber am gründlichsten und erfolgreichsten scheint er sich<lb/>
doch mit der Seele, der Lebensweise, den Tugenden, den Arbeiten und Sitten<lb/>
des wunderbaren Tiervölkchens beschäftigt zu haben, auf welches uns die Bibel<lb/>
mit den Worten hinweist: &#x201E;Gehe hin zur Ameise und lerne von ihr." Dieser<lb/>
Spruch richtet sich eigentlich nur an den Trägen, dem er den Fleiß der Ameise<lb/>
zur Betrachtung und Nachahmung empfiehlt. Die Wissenschaft aber hat auch<lb/>
andre Seiten ins Auge gefaßt und dabei entdeckt, daß dieses winzige Geschöpf<lb/>
eins der größten Wunder und Rätsel der Tierwelt ist. Sehen wir von den ver¬<lb/>
gleichsweise riesenhaften Ameisen Indiens und andrer Tropenländer sowie von<lb/>
den weißen Ameisen ab, welche zu den Netz- oder Gitterflüglern gehören, und<lb/>
werfen wir nur ein paar Blicke auf unsre heimischen Arten &#x2014; wie erstaunlich<lb/>
erscheint uns da die körperliche und geistige Kraft, der Verstand und der Wille,<lb/>
welche in einen solchen winzigen Leib zusammengedrängt sind! Weit mehr als<lb/>
athletische Stärke, die in Milvus Gestalt einen Ochsen forttrug, zeigt die Ameise,<lb/>
die mit Leichtigkeit einen Gegenstand zehnmal schwerer als ihr eignes Gewicht<lb/>
eine Strecke tausendmal so lang als sie selbst von dannen schleppt. Doch<lb/>
wundert uns dies nicht so sehr, wenn wir uns erinnern, daß eine Raupe eine<lb/>
Glasglocke, unter die wir sie legen und die wir überdies mit einem zehnpfün-<lb/>
digen Steine beschweren, zu heben und unter dem Rande weg zu entkommen<lb/>
vermag, oder daß ein Floh eine Sprungkraft zeigt, welche ihn, wenn er ein<lb/>
Pferd wäre und diese Kraft im Verhältnisse zur Größe eines solchen besäße,<lb/>
mit einem Satze über die Türme des Kölner Domes und dem ganzen damit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0636] Aus einer Ameisenstadt. in Folgenden komme ich auf ein Thema zurück, über das ich den Lesern der Grenzboten schon einmal berichtet habe, das aber so interessant und so unerschöpflich ist, daß es eine Rückkehr zu ihm recht wohl zu vertragen scheint. Den Anlaß zu nochmaliger Be¬ schäftigung mit ihm giebt die Veröffentlichung neuer Beobach¬ tungen, welche John Lubbock, gegenwärtig der beste Kenner des Gegenstandes, gemacht und zunächst in einem Vortrage mitgeteilt hat, den er vor einigen Monaten im ^VorlcinA Usus Lollo^g zu London hielt, und in dem er unter anderm ein sinnreiches Mittel beschrieb, mit dem wir seine Angaben über das Leben der Ameise und diejenigen früherer Entomologen wie Huber, de Gcers, Latreille, Kirby und Spence auf ihre Richtigkeit prüfen können. Wir wissen bereits aus seinem großen Werke ^mes, ^VÄsps g.na Less, daß er auf sehr ver¬ trautem Fuße mit einem Teile der Insektenwelt lebt, und wir erfahren hier, daß er eine Wespe besitzt oder bis vor kurzem besaß, die seit elf Jahren seine intime Freundin war. Aber am gründlichsten und erfolgreichsten scheint er sich doch mit der Seele, der Lebensweise, den Tugenden, den Arbeiten und Sitten des wunderbaren Tiervölkchens beschäftigt zu haben, auf welches uns die Bibel mit den Worten hinweist: „Gehe hin zur Ameise und lerne von ihr." Dieser Spruch richtet sich eigentlich nur an den Trägen, dem er den Fleiß der Ameise zur Betrachtung und Nachahmung empfiehlt. Die Wissenschaft aber hat auch andre Seiten ins Auge gefaßt und dabei entdeckt, daß dieses winzige Geschöpf eins der größten Wunder und Rätsel der Tierwelt ist. Sehen wir von den ver¬ gleichsweise riesenhaften Ameisen Indiens und andrer Tropenländer sowie von den weißen Ameisen ab, welche zu den Netz- oder Gitterflüglern gehören, und werfen wir nur ein paar Blicke auf unsre heimischen Arten — wie erstaunlich erscheint uns da die körperliche und geistige Kraft, der Verstand und der Wille, welche in einen solchen winzigen Leib zusammengedrängt sind! Weit mehr als athletische Stärke, die in Milvus Gestalt einen Ochsen forttrug, zeigt die Ameise, die mit Leichtigkeit einen Gegenstand zehnmal schwerer als ihr eignes Gewicht eine Strecke tausendmal so lang als sie selbst von dannen schleppt. Doch wundert uns dies nicht so sehr, wenn wir uns erinnern, daß eine Raupe eine Glasglocke, unter die wir sie legen und die wir überdies mit einem zehnpfün- digen Steine beschweren, zu heben und unter dem Rande weg zu entkommen vermag, oder daß ein Floh eine Sprungkraft zeigt, welche ihn, wenn er ein Pferd wäre und diese Kraft im Verhältnisse zur Größe eines solchen besäße, mit einem Satze über die Türme des Kölner Domes und dem ganzen damit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/636
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/636>, abgerufen am 29.04.2024.