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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Leitung auf, aber von einer Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder in die Schule
zu schicken, war unter ihr so wenig die Rede als unter ihren liberalen Vor¬
gängern. Das wäre ja Zwang gewesen, und in dem parlamentarischen Muster¬
staate muß alles vom Geiste der "Freiheit," d. h. des individuellem Beliebens,
durchweht sein. Jeder Zwang, auch der wohlthätigste, der Zwang zum Guten,
zum Vernünftigen ist ausgeschlossen -- ausgenommen natürlich, wo es sich um
ein Parteiinteresse, richtiger um das Interesse der gerade herrschenden Partei,
handelt. Beide Parteien sind durch das lange Ringen mit einander zu bloßen
Cliquen geworden, ausgelebt und verkommen. Jetzt ist eine dritte in der Bildung
begriffen, welche dem Staatskörper neues Blut und Leben einflößen will. Sie
nennt sich die progressistische und bekennt sich zu einem Programm, welches, in
einer während der Pfingsttage in Brüssel abgehaltenen Versammlung beschlossen,
folgende Punkte enthält: Die Partei fordert und erstrebt 1. Ausdehnung des
Wahlrechts auf alle belgischen Staatsangehörigen, welche lesen und schreiben
können, während jetzt dieses Recht an einen Zensus, d. h. an die Entrichtung
einer direkten jährlichen Steuer, gebunden ist; 2. unentgeltlichen, obligatorischen
und vom Staate beaufsichtigten Volksschulunterricht; 3. vollständige Treniumg
der Kirche vom Staate; 4. Gleichheit der Wehrpflicht für alle Belgier, folglich
Abschaffung des Ersatz- und Stellvcrtretersystems; 5. Durchführung einer gründ¬
lichen Sozialreform und Arbeitergesetzgebuug. Diese Forderungen sind, abgesehen
von der, welche Trennung von Kirche und Staat verlangt, durchaus verständig
und nicht zu hoch gegriffen. Aussicht auf ihre Erfüllung durch die gegen¬
wärtige Volksvertretung ist jedoch nicht vorhanden, und die neue Partei wird
bedeutend wachsen müssen, wenn sie imstande sein soll, die Liberalen zu ver¬
jüngen und zu erfolgreichem Kampfe mit den Klerikalen zu befähigen. Wir
fürchte", daß dies nicht eintreten wird, und sehen deshalb neuen Wirren ent¬
gegen, die sich so lange wiederholen werden, bis den Arbeitern zu Teil geworden
ist, was sie nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit verlangen können.




Die Bestrafung der Trunkenheit.

le maßlose Ausdehnung der Trunksucht in Deutschland, die mit
jedem Jahre erheblich zunimmt, und die Erfahrung, daß die
bisher gegen diese verwüstende Pest zur Anwendung gebrachten
Kampfmittel sich als ziemlich ungeeignete und stumpfe Waffen
erwiesen haben, führen mit Notwendigkeit dazu, die Aufmerksam¬
keit aller Gegner der Schnapspcst und der Physischen und moralischen Volks-


Leitung auf, aber von einer Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder in die Schule
zu schicken, war unter ihr so wenig die Rede als unter ihren liberalen Vor¬
gängern. Das wäre ja Zwang gewesen, und in dem parlamentarischen Muster¬
staate muß alles vom Geiste der „Freiheit," d. h. des individuellem Beliebens,
durchweht sein. Jeder Zwang, auch der wohlthätigste, der Zwang zum Guten,
zum Vernünftigen ist ausgeschlossen — ausgenommen natürlich, wo es sich um
ein Parteiinteresse, richtiger um das Interesse der gerade herrschenden Partei,
handelt. Beide Parteien sind durch das lange Ringen mit einander zu bloßen
Cliquen geworden, ausgelebt und verkommen. Jetzt ist eine dritte in der Bildung
begriffen, welche dem Staatskörper neues Blut und Leben einflößen will. Sie
nennt sich die progressistische und bekennt sich zu einem Programm, welches, in
einer während der Pfingsttage in Brüssel abgehaltenen Versammlung beschlossen,
folgende Punkte enthält: Die Partei fordert und erstrebt 1. Ausdehnung des
Wahlrechts auf alle belgischen Staatsangehörigen, welche lesen und schreiben
können, während jetzt dieses Recht an einen Zensus, d. h. an die Entrichtung
einer direkten jährlichen Steuer, gebunden ist; 2. unentgeltlichen, obligatorischen
und vom Staate beaufsichtigten Volksschulunterricht; 3. vollständige Treniumg
der Kirche vom Staate; 4. Gleichheit der Wehrpflicht für alle Belgier, folglich
Abschaffung des Ersatz- und Stellvcrtretersystems; 5. Durchführung einer gründ¬
lichen Sozialreform und Arbeitergesetzgebuug. Diese Forderungen sind, abgesehen
von der, welche Trennung von Kirche und Staat verlangt, durchaus verständig
und nicht zu hoch gegriffen. Aussicht auf ihre Erfüllung durch die gegen¬
wärtige Volksvertretung ist jedoch nicht vorhanden, und die neue Partei wird
bedeutend wachsen müssen, wenn sie imstande sein soll, die Liberalen zu ver¬
jüngen und zu erfolgreichem Kampfe mit den Klerikalen zu befähigen. Wir
fürchte», daß dies nicht eintreten wird, und sehen deshalb neuen Wirren ent¬
gegen, die sich so lange wiederholen werden, bis den Arbeitern zu Teil geworden
ist, was sie nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit verlangen können.




Die Bestrafung der Trunkenheit.

le maßlose Ausdehnung der Trunksucht in Deutschland, die mit
jedem Jahre erheblich zunimmt, und die Erfahrung, daß die
bisher gegen diese verwüstende Pest zur Anwendung gebrachten
Kampfmittel sich als ziemlich ungeeignete und stumpfe Waffen
erwiesen haben, führen mit Notwendigkeit dazu, die Aufmerksam¬
keit aller Gegner der Schnapspcst und der Physischen und moralischen Volks-


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[0071] Leitung auf, aber von einer Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, war unter ihr so wenig die Rede als unter ihren liberalen Vor¬ gängern. Das wäre ja Zwang gewesen, und in dem parlamentarischen Muster¬ staate muß alles vom Geiste der „Freiheit," d. h. des individuellem Beliebens, durchweht sein. Jeder Zwang, auch der wohlthätigste, der Zwang zum Guten, zum Vernünftigen ist ausgeschlossen — ausgenommen natürlich, wo es sich um ein Parteiinteresse, richtiger um das Interesse der gerade herrschenden Partei, handelt. Beide Parteien sind durch das lange Ringen mit einander zu bloßen Cliquen geworden, ausgelebt und verkommen. Jetzt ist eine dritte in der Bildung begriffen, welche dem Staatskörper neues Blut und Leben einflößen will. Sie nennt sich die progressistische und bekennt sich zu einem Programm, welches, in einer während der Pfingsttage in Brüssel abgehaltenen Versammlung beschlossen, folgende Punkte enthält: Die Partei fordert und erstrebt 1. Ausdehnung des Wahlrechts auf alle belgischen Staatsangehörigen, welche lesen und schreiben können, während jetzt dieses Recht an einen Zensus, d. h. an die Entrichtung einer direkten jährlichen Steuer, gebunden ist; 2. unentgeltlichen, obligatorischen und vom Staate beaufsichtigten Volksschulunterricht; 3. vollständige Treniumg der Kirche vom Staate; 4. Gleichheit der Wehrpflicht für alle Belgier, folglich Abschaffung des Ersatz- und Stellvcrtretersystems; 5. Durchführung einer gründ¬ lichen Sozialreform und Arbeitergesetzgebuug. Diese Forderungen sind, abgesehen von der, welche Trennung von Kirche und Staat verlangt, durchaus verständig und nicht zu hoch gegriffen. Aussicht auf ihre Erfüllung durch die gegen¬ wärtige Volksvertretung ist jedoch nicht vorhanden, und die neue Partei wird bedeutend wachsen müssen, wenn sie imstande sein soll, die Liberalen zu ver¬ jüngen und zu erfolgreichem Kampfe mit den Klerikalen zu befähigen. Wir fürchte», daß dies nicht eintreten wird, und sehen deshalb neuen Wirren ent¬ gegen, die sich so lange wiederholen werden, bis den Arbeitern zu Teil geworden ist, was sie nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit verlangen können. Die Bestrafung der Trunkenheit. le maßlose Ausdehnung der Trunksucht in Deutschland, die mit jedem Jahre erheblich zunimmt, und die Erfahrung, daß die bisher gegen diese verwüstende Pest zur Anwendung gebrachten Kampfmittel sich als ziemlich ungeeignete und stumpfe Waffen erwiesen haben, führen mit Notwendigkeit dazu, die Aufmerksam¬ keit aller Gegner der Schnapspcst und der Physischen und moralischen Volks-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/71>, abgerufen am 29.04.2024.