Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Belgien und die sozialpolitische Frage.

vorläufig die Ruhe wiederhergestellt, nachdem sie auch in diesem Jahre wieder¬
holt stark gestört worden war, und in den letzten Monaten kam es nur hie
und da noch zu Gewaltthaten, die übrigens großenteils sich nur gegen die
Fabrikanten und Grubenbesitzer richteten, welche durch schroffes Auftreten gegen
ihre Arbeiter die ihnen früher aufgenötigte Rücksichtnahme jetzt wieder aus¬
gleichen zu sollen meinten. Die Arbeitseinstellung, welche begonnen und bald
eine weite Ausdehnung erreicht hatte, hat bald wieder der Rückkehr der Arbeiter
in die Bergwerke, Hütten und Fabriken weichen müssen, uicht sowohl wegen des
gegen die Massen aufgebotenen Militärs, als infolge des Mangels an Geldern
zur Unterhaltung der vielen Streitenden. Die Streikkassen waren eben uicht
gefüllt genug, als Voreiligkeit der Führer das Zeichen zur Niederlegung der
Arbeit gab, und die Folge war, daß sie bald leer waren. Aber die Gefahr
besteht fort, da die Zustände, aus denen sie erwachsen ist, fortbestehen. Die
Arbeiter wissen, daß die Klassen, welche in Belgien Gesetze geben und nach der
jeweiligen Parteimehrheit den Staat regieren, nicht geneigt sind, ihrer Not zu
steuern und ihre Aussichten in die Zukunft besser zu gestalten. Sie hoffen
von den Kammern und den aus ihnen hervorgehenden Parteiregierungen nichts
mehr und verlangen ein Wahlgesetz, welches eine andre Vertretung ermöglicht,
die nicht allein die Interessen der Besitzenden im Ange hat, sie verlangen in
immer weiteren Kreisen und immer ungestümer das allgemeine Stimmrecht, das
hier, wie man sieht, nicht sowohl eine politische als eine Magenfrage ist. Nie¬
mand kann ihnen verdenken, daß sie diesen Ausweg aus ihrem tiefen Elende
suchen. Anderseits aber hat dieses Recht in Belgien weit größere Bedenken
und Gefahren gegen sich als anderwärts, z. B. in Deutschland, wo die Re¬
gierungen schon seit vielen Jahrzehnten für die Bildung der untern Klassen
Sorge getragen haben. Ließ sich dadurch auch nicht verhindern, daß große
Massen der Arbeiter an die utopischen Lehren der Sozialdemokratie glaubten
und darnach ihre Vertreter wählten, so ist darin doch die Möglichkeit gegeben,
daß sie mit der Zeit ihr wahres Interesse erkennen und Erfüllbares von Un¬
erfüllbarem zu scheiden wissen werden. Ganz anders steht es in Belgien, wo
der Liberalismus sehr wenig für die Hebung des Vvlksunterrichts gethan hat
und infolge dessen der Bildungsgrad der niederen Klassen unerhört gering
und jedem, auch dem ärgsten politischen und sozialen Aberglauben, der ihnen
gepredigt wird, zugänglich ist. Allerdings haben die beiden Parteien der
herrschenden Klasse, welche abwechselnd von ihr an das Staatsruder gehoben
wurden, sich sehr eifrig um die Schule gekümmert, aber immer nur in der
Absicht, sie für ihre Parteiziele nutzbar zu machen, sie zu beherrschen und aus¬
zubeuten. Nicht die Hebung und Ausbreitung des Schulunterrichts wurde
erstrebt, sondern von der einen Seite die konfessionslose, von der andern die
von der katholischen Kirche geleitete, den Zwecken der Geistlichkeit dienende
Schule. Die jetzt regierende klerikale Partei nötigte den Schulen priesterliche


Belgien und die sozialpolitische Frage.

vorläufig die Ruhe wiederhergestellt, nachdem sie auch in diesem Jahre wieder¬
holt stark gestört worden war, und in den letzten Monaten kam es nur hie
und da noch zu Gewaltthaten, die übrigens großenteils sich nur gegen die
Fabrikanten und Grubenbesitzer richteten, welche durch schroffes Auftreten gegen
ihre Arbeiter die ihnen früher aufgenötigte Rücksichtnahme jetzt wieder aus¬
gleichen zu sollen meinten. Die Arbeitseinstellung, welche begonnen und bald
eine weite Ausdehnung erreicht hatte, hat bald wieder der Rückkehr der Arbeiter
in die Bergwerke, Hütten und Fabriken weichen müssen, uicht sowohl wegen des
gegen die Massen aufgebotenen Militärs, als infolge des Mangels an Geldern
zur Unterhaltung der vielen Streitenden. Die Streikkassen waren eben uicht
gefüllt genug, als Voreiligkeit der Führer das Zeichen zur Niederlegung der
Arbeit gab, und die Folge war, daß sie bald leer waren. Aber die Gefahr
besteht fort, da die Zustände, aus denen sie erwachsen ist, fortbestehen. Die
Arbeiter wissen, daß die Klassen, welche in Belgien Gesetze geben und nach der
jeweiligen Parteimehrheit den Staat regieren, nicht geneigt sind, ihrer Not zu
steuern und ihre Aussichten in die Zukunft besser zu gestalten. Sie hoffen
von den Kammern und den aus ihnen hervorgehenden Parteiregierungen nichts
mehr und verlangen ein Wahlgesetz, welches eine andre Vertretung ermöglicht,
die nicht allein die Interessen der Besitzenden im Ange hat, sie verlangen in
immer weiteren Kreisen und immer ungestümer das allgemeine Stimmrecht, das
hier, wie man sieht, nicht sowohl eine politische als eine Magenfrage ist. Nie¬
mand kann ihnen verdenken, daß sie diesen Ausweg aus ihrem tiefen Elende
suchen. Anderseits aber hat dieses Recht in Belgien weit größere Bedenken
und Gefahren gegen sich als anderwärts, z. B. in Deutschland, wo die Re¬
gierungen schon seit vielen Jahrzehnten für die Bildung der untern Klassen
Sorge getragen haben. Ließ sich dadurch auch nicht verhindern, daß große
Massen der Arbeiter an die utopischen Lehren der Sozialdemokratie glaubten
und darnach ihre Vertreter wählten, so ist darin doch die Möglichkeit gegeben,
daß sie mit der Zeit ihr wahres Interesse erkennen und Erfüllbares von Un¬
erfüllbarem zu scheiden wissen werden. Ganz anders steht es in Belgien, wo
der Liberalismus sehr wenig für die Hebung des Vvlksunterrichts gethan hat
und infolge dessen der Bildungsgrad der niederen Klassen unerhört gering
und jedem, auch dem ärgsten politischen und sozialen Aberglauben, der ihnen
gepredigt wird, zugänglich ist. Allerdings haben die beiden Parteien der
herrschenden Klasse, welche abwechselnd von ihr an das Staatsruder gehoben
wurden, sich sehr eifrig um die Schule gekümmert, aber immer nur in der
Absicht, sie für ihre Parteiziele nutzbar zu machen, sie zu beherrschen und aus¬
zubeuten. Nicht die Hebung und Ausbreitung des Schulunterrichts wurde
erstrebt, sondern von der einen Seite die konfessionslose, von der andern die
von der katholischen Kirche geleitete, den Zwecken der Geistlichkeit dienende
Schule. Die jetzt regierende klerikale Partei nötigte den Schulen priesterliche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200849"/>
          <fw type="header" place="top"> Belgien und die sozialpolitische Frage.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_211" prev="#ID_210" next="#ID_212"> vorläufig die Ruhe wiederhergestellt, nachdem sie auch in diesem Jahre wieder¬<lb/>
holt stark gestört worden war, und in den letzten Monaten kam es nur hie<lb/>
und da noch zu Gewaltthaten, die übrigens großenteils sich nur gegen die<lb/>
Fabrikanten und Grubenbesitzer richteten, welche durch schroffes Auftreten gegen<lb/>
ihre Arbeiter die ihnen früher aufgenötigte Rücksichtnahme jetzt wieder aus¬<lb/>
gleichen zu sollen meinten. Die Arbeitseinstellung, welche begonnen und bald<lb/>
eine weite Ausdehnung erreicht hatte, hat bald wieder der Rückkehr der Arbeiter<lb/>
in die Bergwerke, Hütten und Fabriken weichen müssen, uicht sowohl wegen des<lb/>
gegen die Massen aufgebotenen Militärs, als infolge des Mangels an Geldern<lb/>
zur Unterhaltung der vielen Streitenden. Die Streikkassen waren eben uicht<lb/>
gefüllt genug, als Voreiligkeit der Führer das Zeichen zur Niederlegung der<lb/>
Arbeit gab, und die Folge war, daß sie bald leer waren. Aber die Gefahr<lb/>
besteht fort, da die Zustände, aus denen sie erwachsen ist, fortbestehen. Die<lb/>
Arbeiter wissen, daß die Klassen, welche in Belgien Gesetze geben und nach der<lb/>
jeweiligen Parteimehrheit den Staat regieren, nicht geneigt sind, ihrer Not zu<lb/>
steuern und ihre Aussichten in die Zukunft besser zu gestalten. Sie hoffen<lb/>
von den Kammern und den aus ihnen hervorgehenden Parteiregierungen nichts<lb/>
mehr und verlangen ein Wahlgesetz, welches eine andre Vertretung ermöglicht,<lb/>
die nicht allein die Interessen der Besitzenden im Ange hat, sie verlangen in<lb/>
immer weiteren Kreisen und immer ungestümer das allgemeine Stimmrecht, das<lb/>
hier, wie man sieht, nicht sowohl eine politische als eine Magenfrage ist. Nie¬<lb/>
mand kann ihnen verdenken, daß sie diesen Ausweg aus ihrem tiefen Elende<lb/>
suchen. Anderseits aber hat dieses Recht in Belgien weit größere Bedenken<lb/>
und Gefahren gegen sich als anderwärts, z. B. in Deutschland, wo die Re¬<lb/>
gierungen schon seit vielen Jahrzehnten für die Bildung der untern Klassen<lb/>
Sorge getragen haben. Ließ sich dadurch auch nicht verhindern, daß große<lb/>
Massen der Arbeiter an die utopischen Lehren der Sozialdemokratie glaubten<lb/>
und darnach ihre Vertreter wählten, so ist darin doch die Möglichkeit gegeben,<lb/>
daß sie mit der Zeit ihr wahres Interesse erkennen und Erfüllbares von Un¬<lb/>
erfüllbarem zu scheiden wissen werden. Ganz anders steht es in Belgien, wo<lb/>
der Liberalismus sehr wenig für die Hebung des Vvlksunterrichts gethan hat<lb/>
und infolge dessen der Bildungsgrad der niederen Klassen unerhört gering<lb/>
und jedem, auch dem ärgsten politischen und sozialen Aberglauben, der ihnen<lb/>
gepredigt wird, zugänglich ist. Allerdings haben die beiden Parteien der<lb/>
herrschenden Klasse, welche abwechselnd von ihr an das Staatsruder gehoben<lb/>
wurden, sich sehr eifrig um die Schule gekümmert, aber immer nur in der<lb/>
Absicht, sie für ihre Parteiziele nutzbar zu machen, sie zu beherrschen und aus¬<lb/>
zubeuten. Nicht die Hebung und Ausbreitung des Schulunterrichts wurde<lb/>
erstrebt, sondern von der einen Seite die konfessionslose, von der andern die<lb/>
von der katholischen Kirche geleitete, den Zwecken der Geistlichkeit dienende<lb/>
Schule. Die jetzt regierende klerikale Partei nötigte den Schulen priesterliche</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] Belgien und die sozialpolitische Frage. vorläufig die Ruhe wiederhergestellt, nachdem sie auch in diesem Jahre wieder¬ holt stark gestört worden war, und in den letzten Monaten kam es nur hie und da noch zu Gewaltthaten, die übrigens großenteils sich nur gegen die Fabrikanten und Grubenbesitzer richteten, welche durch schroffes Auftreten gegen ihre Arbeiter die ihnen früher aufgenötigte Rücksichtnahme jetzt wieder aus¬ gleichen zu sollen meinten. Die Arbeitseinstellung, welche begonnen und bald eine weite Ausdehnung erreicht hatte, hat bald wieder der Rückkehr der Arbeiter in die Bergwerke, Hütten und Fabriken weichen müssen, uicht sowohl wegen des gegen die Massen aufgebotenen Militärs, als infolge des Mangels an Geldern zur Unterhaltung der vielen Streitenden. Die Streikkassen waren eben uicht gefüllt genug, als Voreiligkeit der Führer das Zeichen zur Niederlegung der Arbeit gab, und die Folge war, daß sie bald leer waren. Aber die Gefahr besteht fort, da die Zustände, aus denen sie erwachsen ist, fortbestehen. Die Arbeiter wissen, daß die Klassen, welche in Belgien Gesetze geben und nach der jeweiligen Parteimehrheit den Staat regieren, nicht geneigt sind, ihrer Not zu steuern und ihre Aussichten in die Zukunft besser zu gestalten. Sie hoffen von den Kammern und den aus ihnen hervorgehenden Parteiregierungen nichts mehr und verlangen ein Wahlgesetz, welches eine andre Vertretung ermöglicht, die nicht allein die Interessen der Besitzenden im Ange hat, sie verlangen in immer weiteren Kreisen und immer ungestümer das allgemeine Stimmrecht, das hier, wie man sieht, nicht sowohl eine politische als eine Magenfrage ist. Nie¬ mand kann ihnen verdenken, daß sie diesen Ausweg aus ihrem tiefen Elende suchen. Anderseits aber hat dieses Recht in Belgien weit größere Bedenken und Gefahren gegen sich als anderwärts, z. B. in Deutschland, wo die Re¬ gierungen schon seit vielen Jahrzehnten für die Bildung der untern Klassen Sorge getragen haben. Ließ sich dadurch auch nicht verhindern, daß große Massen der Arbeiter an die utopischen Lehren der Sozialdemokratie glaubten und darnach ihre Vertreter wählten, so ist darin doch die Möglichkeit gegeben, daß sie mit der Zeit ihr wahres Interesse erkennen und Erfüllbares von Un¬ erfüllbarem zu scheiden wissen werden. Ganz anders steht es in Belgien, wo der Liberalismus sehr wenig für die Hebung des Vvlksunterrichts gethan hat und infolge dessen der Bildungsgrad der niederen Klassen unerhört gering und jedem, auch dem ärgsten politischen und sozialen Aberglauben, der ihnen gepredigt wird, zugänglich ist. Allerdings haben die beiden Parteien der herrschenden Klasse, welche abwechselnd von ihr an das Staatsruder gehoben wurden, sich sehr eifrig um die Schule gekümmert, aber immer nur in der Absicht, sie für ihre Parteiziele nutzbar zu machen, sie zu beherrschen und aus¬ zubeuten. Nicht die Hebung und Ausbreitung des Schulunterrichts wurde erstrebt, sondern von der einen Seite die konfessionslose, von der andern die von der katholischen Kirche geleitete, den Zwecken der Geistlichkeit dienende Schule. Die jetzt regierende klerikale Partei nötigte den Schulen priesterliche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/70>, abgerufen am 15.05.2024.