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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

auch dem Rechte verwerflich erscheine und von ihm nicht geduldet werden könne.
Diese staatliche Mißbilligung eines Lasters, über welches in weiten Kreisen noch
so leicht gedacht und geurteilt wird, welches vielen ein ganz unschuldiges und
ungefährliches Vergnügen zu sein scheint, kann und wird nicht ohne Einfluß
auf die gesellschaftlichen Anschauungen sein, sie wird dazu beitragen, diese im
Laufe der Zeit umzucinderu und umzubilden und an Stelle der Schlaffheit
sittliche Strenge zu setzen. Schon von diesem Gesichtspunkte aus bietet der
Erlaß eines Strafgesetzes gegen die Trunkenheit so große Vorteile, daß er nicht
lebhaft genug ersehnt werden kann.




Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.
von Guntram Schultheiß. (Fortsetzung.)

as Übergewicht, das die germanische und deutsche Art der ein¬
zelnen Persönlichkeit gewährt gegenüber den Formen und Be¬
dingungen des Zusammenlebens, prägt auch jedem Lebensver¬
hältnis seinen eigentümlichen Zug auf. Für allen Anschluß ist
schließlich der freie Wille die Hauptsache, die Festhaltung des An¬
schlusses bildet die deutsche Tugend der Treue; und die Treue gegen sich selbst ist die
Tugend der Stelle oder Beständigkeit, die in der mittelalterlichen Tugendlehre
eine so hohe Rolle spielt. Aus der Treue, aus dem freiwilligen Festhalten an
dem Gewählten, sind die mannichfachsten Gestaltungen deutschen Lebens, deutscher
Sittlichkeit hervorgegangen. In uralter Zeit die eigentümliche Form der Ge¬
folgschaft, später das Lehensverhältuis; und nicht minder beruht die Anhäng¬
lichkeit an Fürsten und Herrscher auf diesem Bedürfnis persönlichen Gemüts¬
anschlusses. Wie oft hat sie unsern Dichtern Stoff gegeben, und wer möchte
die schöne Gruppe im Stuttgarter Schloßgarten vergessen, die den Grafen
Eberhard im Schoße des Unterthanen sicher schlafend darstellt?

Auch die Religion unsrer heidnischen Vorfahren durchzog die hohe Selbst¬
achtung des Einzelnen, welche die ängstliche Beobachtung von Opfergebräuchen
und Gebetsformeln fernhielt, wie sie dem griechischen und römischen Kultus
augehören, um von andern Völkern ganz zu schweigen. Viel herzhafter rückte
der Germane, der Deutsche sich seine Göttergestalten nahe, er unterwarf sie


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

auch dem Rechte verwerflich erscheine und von ihm nicht geduldet werden könne.
Diese staatliche Mißbilligung eines Lasters, über welches in weiten Kreisen noch
so leicht gedacht und geurteilt wird, welches vielen ein ganz unschuldiges und
ungefährliches Vergnügen zu sein scheint, kann und wird nicht ohne Einfluß
auf die gesellschaftlichen Anschauungen sein, sie wird dazu beitragen, diese im
Laufe der Zeit umzucinderu und umzubilden und an Stelle der Schlaffheit
sittliche Strenge zu setzen. Schon von diesem Gesichtspunkte aus bietet der
Erlaß eines Strafgesetzes gegen die Trunkenheit so große Vorteile, daß er nicht
lebhaft genug ersehnt werden kann.




Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.
von Guntram Schultheiß. (Fortsetzung.)

as Übergewicht, das die germanische und deutsche Art der ein¬
zelnen Persönlichkeit gewährt gegenüber den Formen und Be¬
dingungen des Zusammenlebens, prägt auch jedem Lebensver¬
hältnis seinen eigentümlichen Zug auf. Für allen Anschluß ist
schließlich der freie Wille die Hauptsache, die Festhaltung des An¬
schlusses bildet die deutsche Tugend der Treue; und die Treue gegen sich selbst ist die
Tugend der Stelle oder Beständigkeit, die in der mittelalterlichen Tugendlehre
eine so hohe Rolle spielt. Aus der Treue, aus dem freiwilligen Festhalten an
dem Gewählten, sind die mannichfachsten Gestaltungen deutschen Lebens, deutscher
Sittlichkeit hervorgegangen. In uralter Zeit die eigentümliche Form der Ge¬
folgschaft, später das Lehensverhältuis; und nicht minder beruht die Anhäng¬
lichkeit an Fürsten und Herrscher auf diesem Bedürfnis persönlichen Gemüts¬
anschlusses. Wie oft hat sie unsern Dichtern Stoff gegeben, und wer möchte
die schöne Gruppe im Stuttgarter Schloßgarten vergessen, die den Grafen
Eberhard im Schoße des Unterthanen sicher schlafend darstellt?

Auch die Religion unsrer heidnischen Vorfahren durchzog die hohe Selbst¬
achtung des Einzelnen, welche die ängstliche Beobachtung von Opfergebräuchen
und Gebetsformeln fernhielt, wie sie dem griechischen und römischen Kultus
augehören, um von andern Völkern ganz zu schweigen. Viel herzhafter rückte
der Germane, der Deutsche sich seine Göttergestalten nahe, er unterwarf sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/77>, abgerufen am 28.04.2024.