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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Viel mehr den Schranken und der Endlichkeit des Persönlichen, sodaß sie aller¬
dings auch leichter vor dem Christentume dahinwelkten. Denn die Götter¬
dämmerung, die mythische Erzählung von ihrem dereinstigen Untergange, gehörte
doch vermutlich auch dem Glauben unsrer Vorfahren an, wenn wir sie auch in
zusammenhängender Überlieferung nur von den Skandinaviern kennen. Aber
auch den Göttern gegenüber ist die Hingabe der Persönlichkeit das Wertvollste;
der Kriegsmann weihte sich als Hagestalt durch den Eisenring am Arm dem
Kriegsgott als Gefolgsmann, und Wodan erhob die gefallenen Helden in seine
Wolkenburg als seine Genossen im Kampfspiel und Schmaus wie beim letzten
Vernichtungsstreit. Nach dieser Anschauung fornite sich selbst dem christlichen
Verfasser des Heliand im neunten Jahrhundert das Verhältnis des Gläubigen
zu Christus, der als Gefolgsherr dargestellt ist. Wie weit auch der deutsche
Mönch unter dem Banne dieser volkstümlichen Auffassung stand, wollen wir
nicht weiter erörtern. Daß das deutsche religiöse Gemüt in Luther oder den
spätern Pietisten sich nach einem persönlichen Verhältnis zu Gott und Christus
sehnte und in Gebet und Erweckung abarbeitete, dürfte für die Fortdauer dieses
Zuges wohl herangezogen werden.

Waren es bisher Züge unsers Volkscharakters, die wir ohne nationale
Überhebung edel und achtungswürdig nennen dürfen, ja ans deren Einführung
in die geschichtliche Entwicklung Europas wir den tiefsten Unterschied der mitt¬
leren und neueren Zeit gegründet glauben, gegenüber dem Völkerbrei, in dem
das klassische Altertum durch das römische Weltreich der Versumpfung zugeführt
wurde, so wollen wir von andern Zügen deutschen Wesens mit deutscher Be¬
scheidenheit reden.

Tag und Nacht mit Zechen fortzufahren, wird keinem verdacht, sagt Tacitus.
Und diese Zechlust ist uns im wesentlichen als Erbteil verblieben bis auf den
heutigen Tag. Sie ist gewiß nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Völlerei
und Unmäßigkeit, wenn sie auch in roheren Zeiten oder bei roheren Naturen
häufig genug ausartete. Denn sie ist wohl ein Ausfluß dessen, was wir oft
als Gemütlichkeit bezeichnen hören, der Neigung, die scharfen Ecken der Dinge
und des Lebens zu übersehen und zu verschleiern. Durch den feierlichen Ernst,
mit dem das Trinken gern zu besondern Gebräuchen erhoben worden ist, soll
doch schließlich eine gehobene Stimmung erzeugt werden, die dem Gemüte eine
gewisse Anregung und Erhebung gewährt. Denn man verlangt dabei vom
Manne, daß er einen guten Schluck vertragen könne. Wenn es schon der
Grieche der besten Zeit verschmähte, den Wein unvermischt zu trinken, so darf
man deswegen deutsches Zechen nicht schlechthin barbarisch nennen, weil griechische
Symposien oder römische Gelage verfeinerter und gesuchter waren. Denn was
sollen wir dann für Völker anwenden, die nur trinken, um im Rausch Ver¬
gessenheit zu suchen, wie etwa Jrländer oder Slawen oder Mongolen? Unsre
langen Winternüchte mögen von jeher ihren Teil dazu beigetragen haben, den


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.

Viel mehr den Schranken und der Endlichkeit des Persönlichen, sodaß sie aller¬
dings auch leichter vor dem Christentume dahinwelkten. Denn die Götter¬
dämmerung, die mythische Erzählung von ihrem dereinstigen Untergange, gehörte
doch vermutlich auch dem Glauben unsrer Vorfahren an, wenn wir sie auch in
zusammenhängender Überlieferung nur von den Skandinaviern kennen. Aber
auch den Göttern gegenüber ist die Hingabe der Persönlichkeit das Wertvollste;
der Kriegsmann weihte sich als Hagestalt durch den Eisenring am Arm dem
Kriegsgott als Gefolgsmann, und Wodan erhob die gefallenen Helden in seine
Wolkenburg als seine Genossen im Kampfspiel und Schmaus wie beim letzten
Vernichtungsstreit. Nach dieser Anschauung fornite sich selbst dem christlichen
Verfasser des Heliand im neunten Jahrhundert das Verhältnis des Gläubigen
zu Christus, der als Gefolgsherr dargestellt ist. Wie weit auch der deutsche
Mönch unter dem Banne dieser volkstümlichen Auffassung stand, wollen wir
nicht weiter erörtern. Daß das deutsche religiöse Gemüt in Luther oder den
spätern Pietisten sich nach einem persönlichen Verhältnis zu Gott und Christus
sehnte und in Gebet und Erweckung abarbeitete, dürfte für die Fortdauer dieses
Zuges wohl herangezogen werden.

Waren es bisher Züge unsers Volkscharakters, die wir ohne nationale
Überhebung edel und achtungswürdig nennen dürfen, ja ans deren Einführung
in die geschichtliche Entwicklung Europas wir den tiefsten Unterschied der mitt¬
leren und neueren Zeit gegründet glauben, gegenüber dem Völkerbrei, in dem
das klassische Altertum durch das römische Weltreich der Versumpfung zugeführt
wurde, so wollen wir von andern Zügen deutschen Wesens mit deutscher Be¬
scheidenheit reden.

Tag und Nacht mit Zechen fortzufahren, wird keinem verdacht, sagt Tacitus.
Und diese Zechlust ist uns im wesentlichen als Erbteil verblieben bis auf den
heutigen Tag. Sie ist gewiß nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Völlerei
und Unmäßigkeit, wenn sie auch in roheren Zeiten oder bei roheren Naturen
häufig genug ausartete. Denn sie ist wohl ein Ausfluß dessen, was wir oft
als Gemütlichkeit bezeichnen hören, der Neigung, die scharfen Ecken der Dinge
und des Lebens zu übersehen und zu verschleiern. Durch den feierlichen Ernst,
mit dem das Trinken gern zu besondern Gebräuchen erhoben worden ist, soll
doch schließlich eine gehobene Stimmung erzeugt werden, die dem Gemüte eine
gewisse Anregung und Erhebung gewährt. Denn man verlangt dabei vom
Manne, daß er einen guten Schluck vertragen könne. Wenn es schon der
Grieche der besten Zeit verschmähte, den Wein unvermischt zu trinken, so darf
man deswegen deutsches Zechen nicht schlechthin barbarisch nennen, weil griechische
Symposien oder römische Gelage verfeinerter und gesuchter waren. Denn was
sollen wir dann für Völker anwenden, die nur trinken, um im Rausch Ver¬
gessenheit zu suchen, wie etwa Jrländer oder Slawen oder Mongolen? Unsre
langen Winternüchte mögen von jeher ihren Teil dazu beigetragen haben, den


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[0078] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. Viel mehr den Schranken und der Endlichkeit des Persönlichen, sodaß sie aller¬ dings auch leichter vor dem Christentume dahinwelkten. Denn die Götter¬ dämmerung, die mythische Erzählung von ihrem dereinstigen Untergange, gehörte doch vermutlich auch dem Glauben unsrer Vorfahren an, wenn wir sie auch in zusammenhängender Überlieferung nur von den Skandinaviern kennen. Aber auch den Göttern gegenüber ist die Hingabe der Persönlichkeit das Wertvollste; der Kriegsmann weihte sich als Hagestalt durch den Eisenring am Arm dem Kriegsgott als Gefolgsmann, und Wodan erhob die gefallenen Helden in seine Wolkenburg als seine Genossen im Kampfspiel und Schmaus wie beim letzten Vernichtungsstreit. Nach dieser Anschauung fornite sich selbst dem christlichen Verfasser des Heliand im neunten Jahrhundert das Verhältnis des Gläubigen zu Christus, der als Gefolgsherr dargestellt ist. Wie weit auch der deutsche Mönch unter dem Banne dieser volkstümlichen Auffassung stand, wollen wir nicht weiter erörtern. Daß das deutsche religiöse Gemüt in Luther oder den spätern Pietisten sich nach einem persönlichen Verhältnis zu Gott und Christus sehnte und in Gebet und Erweckung abarbeitete, dürfte für die Fortdauer dieses Zuges wohl herangezogen werden. Waren es bisher Züge unsers Volkscharakters, die wir ohne nationale Überhebung edel und achtungswürdig nennen dürfen, ja ans deren Einführung in die geschichtliche Entwicklung Europas wir den tiefsten Unterschied der mitt¬ leren und neueren Zeit gegründet glauben, gegenüber dem Völkerbrei, in dem das klassische Altertum durch das römische Weltreich der Versumpfung zugeführt wurde, so wollen wir von andern Zügen deutschen Wesens mit deutscher Be¬ scheidenheit reden. Tag und Nacht mit Zechen fortzufahren, wird keinem verdacht, sagt Tacitus. Und diese Zechlust ist uns im wesentlichen als Erbteil verblieben bis auf den heutigen Tag. Sie ist gewiß nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit Völlerei und Unmäßigkeit, wenn sie auch in roheren Zeiten oder bei roheren Naturen häufig genug ausartete. Denn sie ist wohl ein Ausfluß dessen, was wir oft als Gemütlichkeit bezeichnen hören, der Neigung, die scharfen Ecken der Dinge und des Lebens zu übersehen und zu verschleiern. Durch den feierlichen Ernst, mit dem das Trinken gern zu besondern Gebräuchen erhoben worden ist, soll doch schließlich eine gehobene Stimmung erzeugt werden, die dem Gemüte eine gewisse Anregung und Erhebung gewährt. Denn man verlangt dabei vom Manne, daß er einen guten Schluck vertragen könne. Wenn es schon der Grieche der besten Zeit verschmähte, den Wein unvermischt zu trinken, so darf man deswegen deutsches Zechen nicht schlechthin barbarisch nennen, weil griechische Symposien oder römische Gelage verfeinerter und gesuchter waren. Denn was sollen wir dann für Völker anwenden, die nur trinken, um im Rausch Ver¬ gessenheit zu suchen, wie etwa Jrländer oder Slawen oder Mongolen? Unsre langen Winternüchte mögen von jeher ihren Teil dazu beigetragen haben, den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/78>, abgerufen am 14.05.2024.