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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Nach der Entscheidung in Paris.

it sehr gemischten Gefühlen sah man in den letzten Wochen die
Krisis in Frankreich sich entwickeln. Es war ein ungemein hart¬
näckiger Todeskampf, in welchem die Präsidentschaft des Herrn
Grevy von hinnen schied, ein Schauspiel halb kläglicher, halb
lächerlicher Art, das an die rabbimsche Legende von Moses er¬
innerte, welcher dem Todesengel Scimmael durchaus nicht folgen wollte und
ihn mit alleu möglichen Mitteln abzuwehren versuchte. Ein Ertrinkender griff
krampfhaft nach Strohhalmen, die auf der Fläche des Wassers schwammen, ein
allgemein Aufgegebener vermochte sich selbst nicht als verloren zu betrachten und
pflanzte noch am Grabe die Hoffnung auf. Erst spät ergab er sich in das Un¬
vermeidliche, verzichtete und rettete so wenigstens einen Nest seiner Würde.
Herr Grevy erklärte, durch eine Botschaft seine Entlassung nehmen zu wollen,
wurde dann wieder zweifelhaft, ob ers müsse, da die öffentliche Meinung sich
ihm günstiger gestaltet zu haben schien (in Wirklichkeit war es nur die Furcht
der Radikalen und der Revanchepolitiker vor einer Wahl Ferrys zu seinem
Nachfolger, die ihn jetzt zum Bleiben aufforderte), zögerte von neuem und
unterließ die Botschaft, die bereits auf den Donnerstag den Deputirten vorn
Ministerpräsidenten angekündigt worden war. Da zwang ihn die Kammer zu
dem Entschlüsse, den er freiwillig nicht fassen konnte. Er hatte der öffentlichen
Stimme nicht nachgeben, er hatte den Ratschlägen der Minister und Partei¬
führer, die er über seine Lage und seine Pflicht befragt, nicht folgen, er hatte
die Umstände, die seinen Namen und seine amtliche Würde in einen Skandal
hineingezogen und befleckt hatten, nicht berücksichtigen wollen; jetzt erlag er dem
zwar verhüllten, aber immerhin unverkennbaren Tadelsvvtum, welches die Volks-


Greiizboten IV. 1887. 71


Nach der Entscheidung in Paris.

it sehr gemischten Gefühlen sah man in den letzten Wochen die
Krisis in Frankreich sich entwickeln. Es war ein ungemein hart¬
näckiger Todeskampf, in welchem die Präsidentschaft des Herrn
Grevy von hinnen schied, ein Schauspiel halb kläglicher, halb
lächerlicher Art, das an die rabbimsche Legende von Moses er¬
innerte, welcher dem Todesengel Scimmael durchaus nicht folgen wollte und
ihn mit alleu möglichen Mitteln abzuwehren versuchte. Ein Ertrinkender griff
krampfhaft nach Strohhalmen, die auf der Fläche des Wassers schwammen, ein
allgemein Aufgegebener vermochte sich selbst nicht als verloren zu betrachten und
pflanzte noch am Grabe die Hoffnung auf. Erst spät ergab er sich in das Un¬
vermeidliche, verzichtete und rettete so wenigstens einen Nest seiner Würde.
Herr Grevy erklärte, durch eine Botschaft seine Entlassung nehmen zu wollen,
wurde dann wieder zweifelhaft, ob ers müsse, da die öffentliche Meinung sich
ihm günstiger gestaltet zu haben schien (in Wirklichkeit war es nur die Furcht
der Radikalen und der Revanchepolitiker vor einer Wahl Ferrys zu seinem
Nachfolger, die ihn jetzt zum Bleiben aufforderte), zögerte von neuem und
unterließ die Botschaft, die bereits auf den Donnerstag den Deputirten vorn
Ministerpräsidenten angekündigt worden war. Da zwang ihn die Kammer zu
dem Entschlüsse, den er freiwillig nicht fassen konnte. Er hatte der öffentlichen
Stimme nicht nachgeben, er hatte den Ratschlägen der Minister und Partei¬
führer, die er über seine Lage und seine Pflicht befragt, nicht folgen, er hatte
die Umstände, die seinen Namen und seine amtliche Würde in einen Skandal
hineingezogen und befleckt hatten, nicht berücksichtigen wollen; jetzt erlag er dem
zwar verhüllten, aber immerhin unverkennbaren Tadelsvvtum, welches die Volks-


Greiizboten IV. 1887. 71
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[0569] [Abbildung] Nach der Entscheidung in Paris. it sehr gemischten Gefühlen sah man in den letzten Wochen die Krisis in Frankreich sich entwickeln. Es war ein ungemein hart¬ näckiger Todeskampf, in welchem die Präsidentschaft des Herrn Grevy von hinnen schied, ein Schauspiel halb kläglicher, halb lächerlicher Art, das an die rabbimsche Legende von Moses er¬ innerte, welcher dem Todesengel Scimmael durchaus nicht folgen wollte und ihn mit alleu möglichen Mitteln abzuwehren versuchte. Ein Ertrinkender griff krampfhaft nach Strohhalmen, die auf der Fläche des Wassers schwammen, ein allgemein Aufgegebener vermochte sich selbst nicht als verloren zu betrachten und pflanzte noch am Grabe die Hoffnung auf. Erst spät ergab er sich in das Un¬ vermeidliche, verzichtete und rettete so wenigstens einen Nest seiner Würde. Herr Grevy erklärte, durch eine Botschaft seine Entlassung nehmen zu wollen, wurde dann wieder zweifelhaft, ob ers müsse, da die öffentliche Meinung sich ihm günstiger gestaltet zu haben schien (in Wirklichkeit war es nur die Furcht der Radikalen und der Revanchepolitiker vor einer Wahl Ferrys zu seinem Nachfolger, die ihn jetzt zum Bleiben aufforderte), zögerte von neuem und unterließ die Botschaft, die bereits auf den Donnerstag den Deputirten vorn Ministerpräsidenten angekündigt worden war. Da zwang ihn die Kammer zu dem Entschlüsse, den er freiwillig nicht fassen konnte. Er hatte der öffentlichen Stimme nicht nachgeben, er hatte den Ratschlägen der Minister und Partei¬ führer, die er über seine Lage und seine Pflicht befragt, nicht folgen, er hatte die Umstände, die seinen Namen und seine amtliche Würde in einen Skandal hineingezogen und befleckt hatten, nicht berücksichtigen wollen; jetzt erlag er dem zwar verhüllten, aber immerhin unverkennbaren Tadelsvvtum, welches die Volks- Greiizboten IV. 1887. 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/569>, abgerufen am 01.05.2024.