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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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in die neue Umgebung hineinzuleben suchte, geeignet sein dürften, den engen
Kreis, für den sie bestimmt waren, zu überschreiten. Ohne weitere Zuthaten
sollen deshalb im nachstehenden diese Blätter zum Abdruck gelangen.

H.. von Berlin über Wien nach Pest.

Unsre raschlebende Zeit kennt keine vermittelnden Übergänge, und die Tage
sind gewiß nicht mehr fern, wo Siemers oder Edison jenes Märchen verwirk¬
licht, in welchem man nur zu wünschen braucht, um seinen Standort um Hun¬
derte von Meilen zu verändern. Wie anders jene einzige, ewig anregende Reise,
welche dereinst von unserm großen Dichter "von Karlsbad über den Brenner
nach Verona" und dem heiligen Lande Italien angetreten wurde! Nicht bloß,
daß die Neisevorbcreitung größer und gründlicher war, auch das Ziel trat dem
Reisenden vermittelter entgegen; der Übergang des Klimas vollzog sich be¬
wußter, die wechselnde Vegetation blieb in harmonischer Verbindung, die
Menschen mit ihren Sitten und Trachten entwickelten sich allmählich. Heute
drückt man sich nicht bloß des Abends in die Ecke des Eisenbahnwagens, um
am andern Morgen in weiter Ferne von der Heimat unter ganz fremden Ver¬
hältnissen zu erwachen, heute vollzieht sich dieser Wandel schon auf dem Bahn¬
hofe, wo der "direkte," für das weiteste Ziel bestimmte Wagen den Abreisenden
sofort seiner bisherigen Atmosphäre entrückt.

Ihr wißt, daß ich mich noch um vier Uhr in voller Thätigkeit befand,
wenngleich von jenem Reisefieber ergriffen, dessen Heilung mit der Droschkeufahrt
nach der AnHalter Bahn anfing. Dort in den Wiener Wagen befördert, fand
ich, der einzige norddeutsche, mich in einer ungemischt österreichisch-ungarischen
Gesellschaft und konnte sofort erproben, ob der Wiener Dialekt noch ungewohnt
mein Ohr traf. Wir waren bald in ein so gemütliches Plaudern geraten, daß
die Ankündigung der Station "Jüterbogk" mir wie ein fremdartiger Klang er¬
schien. In dem Wagen befanden sich Wiener und Pester, welche auf der Heim¬
kehr von einer Vergnügungsfahrt nach Berlin begriffen waren. Es ist leider
nur zu wahr, daß erst im Auslande der Patriotismus wächst, und so machte
mich schon auf der Strecke bis Dresden in dieser fremden Gesellschaft das Lob
stolz, welches sie in überschwünglichen, Worten einstimmig und uneingeschränkt
der Schönheit und Großartigkeit unsrer Reichshauptstadt spendete. Sie erkannten
-- was ich mir selbst schon oft gesagt hatte -- bereitwilligst an, daß Wien
von dem rasch emporstrebenden Berlin längst überflügelt sei, und da gerade in
den Zeitungen davon die Rede war, daß in Wien den Fremden auf alle mög¬
liche Weise das Leben verteuert werde, so konnte von unsern Gästen nicht genug
die Ordnung auf den Straßen und in Bezug auf Taxen und Preise bei uns
gelobt werden. Ich sollte bald Gelegenheit finden, diese Gegensätze zu erproben.

Als wir die Grenze bei Tetschen überschritten hatten, senkte sich bald der
Schlaf auf die müden Lider, und als wir erwachten, befanden wir uns bereits


Line Fahrt in den Grient.

in die neue Umgebung hineinzuleben suchte, geeignet sein dürften, den engen
Kreis, für den sie bestimmt waren, zu überschreiten. Ohne weitere Zuthaten
sollen deshalb im nachstehenden diese Blätter zum Abdruck gelangen.

H.. von Berlin über Wien nach Pest.

Unsre raschlebende Zeit kennt keine vermittelnden Übergänge, und die Tage
sind gewiß nicht mehr fern, wo Siemers oder Edison jenes Märchen verwirk¬
licht, in welchem man nur zu wünschen braucht, um seinen Standort um Hun¬
derte von Meilen zu verändern. Wie anders jene einzige, ewig anregende Reise,
welche dereinst von unserm großen Dichter „von Karlsbad über den Brenner
nach Verona" und dem heiligen Lande Italien angetreten wurde! Nicht bloß,
daß die Neisevorbcreitung größer und gründlicher war, auch das Ziel trat dem
Reisenden vermittelter entgegen; der Übergang des Klimas vollzog sich be¬
wußter, die wechselnde Vegetation blieb in harmonischer Verbindung, die
Menschen mit ihren Sitten und Trachten entwickelten sich allmählich. Heute
drückt man sich nicht bloß des Abends in die Ecke des Eisenbahnwagens, um
am andern Morgen in weiter Ferne von der Heimat unter ganz fremden Ver¬
hältnissen zu erwachen, heute vollzieht sich dieser Wandel schon auf dem Bahn¬
hofe, wo der „direkte," für das weiteste Ziel bestimmte Wagen den Abreisenden
sofort seiner bisherigen Atmosphäre entrückt.

Ihr wißt, daß ich mich noch um vier Uhr in voller Thätigkeit befand,
wenngleich von jenem Reisefieber ergriffen, dessen Heilung mit der Droschkeufahrt
nach der AnHalter Bahn anfing. Dort in den Wiener Wagen befördert, fand
ich, der einzige norddeutsche, mich in einer ungemischt österreichisch-ungarischen
Gesellschaft und konnte sofort erproben, ob der Wiener Dialekt noch ungewohnt
mein Ohr traf. Wir waren bald in ein so gemütliches Plaudern geraten, daß
die Ankündigung der Station „Jüterbogk" mir wie ein fremdartiger Klang er¬
schien. In dem Wagen befanden sich Wiener und Pester, welche auf der Heim¬
kehr von einer Vergnügungsfahrt nach Berlin begriffen waren. Es ist leider
nur zu wahr, daß erst im Auslande der Patriotismus wächst, und so machte
mich schon auf der Strecke bis Dresden in dieser fremden Gesellschaft das Lob
stolz, welches sie in überschwünglichen, Worten einstimmig und uneingeschränkt
der Schönheit und Großartigkeit unsrer Reichshauptstadt spendete. Sie erkannten
— was ich mir selbst schon oft gesagt hatte — bereitwilligst an, daß Wien
von dem rasch emporstrebenden Berlin längst überflügelt sei, und da gerade in
den Zeitungen davon die Rede war, daß in Wien den Fremden auf alle mög¬
liche Weise das Leben verteuert werde, so konnte von unsern Gästen nicht genug
die Ordnung auf den Straßen und in Bezug auf Taxen und Preise bei uns
gelobt werden. Ich sollte bald Gelegenheit finden, diese Gegensätze zu erproben.

Als wir die Grenze bei Tetschen überschritten hatten, senkte sich bald der
Schlaf auf die müden Lider, und als wir erwachten, befanden wir uns bereits


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/58>, abgerufen am 01.05.2024.