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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David BeronsN.

Dicht an einer großen Mauer, vor einem kleinen Hause, blieb Jeschka
stehen, pochte vorsichtig an die Hausthür und ging dann hinein, indem sie David
"ach sich zog.

In einem kleinen Zimmer saß bei dem Scheine einer Lampe eine ältere
Frau, emsig arbeitend. Aufblickend erkannte sie Jeschka, stand auf und fragte
sie freundlich: Wen bringst du mir, meine Tochter?

Den Freund, von dem ich Euch erzählt habe, antwortete Jeschka hastig,
und indem sie die Hand der Matrone ergriff, fuhr sie eindringlich und erregt
fort: Seht, wie er gelitten hat durch Kälte und Hunger! Er ist lange umher
geirrt, ohne Obdach, ohne Nahrung, und heute Abend ist er hier angekommen
und sehnt sich darnach, das Buch wieder zu lesen, welches ihm die Augen ge¬
öffnet hat über den Irrtum, in dem er und wir alle lebten. Und seht, dies
hier ist sein Kind! Er hat es mitgenommen, er wollte es nicht dort lassen, es
sollte seinen Glauben teilen. Aber es ist krank, fürchte ich, es bedarf der Ruhe.
Sie hielt es der Matrone hin. Ich habe ihn hergebracht, damit Ihr ihm bei¬
steht und ihm sagt, was er thun muß.

Das Kind ist krank, schwer krank, sagte die Alte, indem sie erschrocken das
wachsbleiche Kindergesichtchen betrachtete und alles andre in ihrem mütterlichen
Triebe dafür vergaß. Sie bedeutete Jeschka, es hinzulegen, löste seine Hüllen und
kleidete es mit ihrer Hilfe aus. Sie konnte sich der Thränen nicht erwehren
beim Anblick des abgezehrten, mit Wunden und Beulen bedeckten, anscheinend
in den letzten Zügen liegenden Kindes. Wie jammervoll, wie schrecklich! sagte
sie entsetzt und sah sich dann besorgt nach David um. Er war auf einen Stuhl
gesunken, sprach- und bewegungslos.

Er stirbt, er stirbt! rief Jeschka verzweiflungsvoll, das Kind vergessend.

Rufe meinen Mann! sagte erschrocken die Alte, und Jeschka flog davon,
den alten Pfarrer zu holen.




9.

Eine Erschöpfung zum Tode war über David gekommen, in der ihm sein
ganzes vergangnes Leben schwand, in der ihn die Zukunft nicht kümmerte
und nur der kurze Augenblick, in dem er hin und wieder zu sich kam,
für ihn Bedeutung hatte. Wochen gingen dahin, und er hatte sich gewöhnt,
von der freundlichen, milden alten Frau gepflegt und abgewartet zu werden,
ohne auch nur den Wunsch zu hegen, näheres über sie und die Art zu erfahren,
wie er in dies helle, freundliche Zimmer und dies reinliche, weiße Bett ge¬
kommen war.

Wenn die Fenster offen standen, zog würziger Blumenduft in das Stübchen,
Vögelgesang erklang, und als er anfing, wieder zu denken, merkte er, daß ihm


David BeronsN.

Dicht an einer großen Mauer, vor einem kleinen Hause, blieb Jeschka
stehen, pochte vorsichtig an die Hausthür und ging dann hinein, indem sie David
»ach sich zog.

In einem kleinen Zimmer saß bei dem Scheine einer Lampe eine ältere
Frau, emsig arbeitend. Aufblickend erkannte sie Jeschka, stand auf und fragte
sie freundlich: Wen bringst du mir, meine Tochter?

Den Freund, von dem ich Euch erzählt habe, antwortete Jeschka hastig,
und indem sie die Hand der Matrone ergriff, fuhr sie eindringlich und erregt
fort: Seht, wie er gelitten hat durch Kälte und Hunger! Er ist lange umher
geirrt, ohne Obdach, ohne Nahrung, und heute Abend ist er hier angekommen
und sehnt sich darnach, das Buch wieder zu lesen, welches ihm die Augen ge¬
öffnet hat über den Irrtum, in dem er und wir alle lebten. Und seht, dies
hier ist sein Kind! Er hat es mitgenommen, er wollte es nicht dort lassen, es
sollte seinen Glauben teilen. Aber es ist krank, fürchte ich, es bedarf der Ruhe.
Sie hielt es der Matrone hin. Ich habe ihn hergebracht, damit Ihr ihm bei¬
steht und ihm sagt, was er thun muß.

Das Kind ist krank, schwer krank, sagte die Alte, indem sie erschrocken das
wachsbleiche Kindergesichtchen betrachtete und alles andre in ihrem mütterlichen
Triebe dafür vergaß. Sie bedeutete Jeschka, es hinzulegen, löste seine Hüllen und
kleidete es mit ihrer Hilfe aus. Sie konnte sich der Thränen nicht erwehren
beim Anblick des abgezehrten, mit Wunden und Beulen bedeckten, anscheinend
in den letzten Zügen liegenden Kindes. Wie jammervoll, wie schrecklich! sagte
sie entsetzt und sah sich dann besorgt nach David um. Er war auf einen Stuhl
gesunken, sprach- und bewegungslos.

Er stirbt, er stirbt! rief Jeschka verzweiflungsvoll, das Kind vergessend.

Rufe meinen Mann! sagte erschrocken die Alte, und Jeschka flog davon,
den alten Pfarrer zu holen.




9.

Eine Erschöpfung zum Tode war über David gekommen, in der ihm sein
ganzes vergangnes Leben schwand, in der ihn die Zukunft nicht kümmerte
und nur der kurze Augenblick, in dem er hin und wieder zu sich kam,
für ihn Bedeutung hatte. Wochen gingen dahin, und er hatte sich gewöhnt,
von der freundlichen, milden alten Frau gepflegt und abgewartet zu werden,
ohne auch nur den Wunsch zu hegen, näheres über sie und die Art zu erfahren,
wie er in dies helle, freundliche Zimmer und dies reinliche, weiße Bett ge¬
kommen war.

Wenn die Fenster offen standen, zog würziger Blumenduft in das Stübchen,
Vögelgesang erklang, und als er anfing, wieder zu denken, merkte er, daß ihm


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[0375] David BeronsN. Dicht an einer großen Mauer, vor einem kleinen Hause, blieb Jeschka stehen, pochte vorsichtig an die Hausthür und ging dann hinein, indem sie David »ach sich zog. In einem kleinen Zimmer saß bei dem Scheine einer Lampe eine ältere Frau, emsig arbeitend. Aufblickend erkannte sie Jeschka, stand auf und fragte sie freundlich: Wen bringst du mir, meine Tochter? Den Freund, von dem ich Euch erzählt habe, antwortete Jeschka hastig, und indem sie die Hand der Matrone ergriff, fuhr sie eindringlich und erregt fort: Seht, wie er gelitten hat durch Kälte und Hunger! Er ist lange umher geirrt, ohne Obdach, ohne Nahrung, und heute Abend ist er hier angekommen und sehnt sich darnach, das Buch wieder zu lesen, welches ihm die Augen ge¬ öffnet hat über den Irrtum, in dem er und wir alle lebten. Und seht, dies hier ist sein Kind! Er hat es mitgenommen, er wollte es nicht dort lassen, es sollte seinen Glauben teilen. Aber es ist krank, fürchte ich, es bedarf der Ruhe. Sie hielt es der Matrone hin. Ich habe ihn hergebracht, damit Ihr ihm bei¬ steht und ihm sagt, was er thun muß. Das Kind ist krank, schwer krank, sagte die Alte, indem sie erschrocken das wachsbleiche Kindergesichtchen betrachtete und alles andre in ihrem mütterlichen Triebe dafür vergaß. Sie bedeutete Jeschka, es hinzulegen, löste seine Hüllen und kleidete es mit ihrer Hilfe aus. Sie konnte sich der Thränen nicht erwehren beim Anblick des abgezehrten, mit Wunden und Beulen bedeckten, anscheinend in den letzten Zügen liegenden Kindes. Wie jammervoll, wie schrecklich! sagte sie entsetzt und sah sich dann besorgt nach David um. Er war auf einen Stuhl gesunken, sprach- und bewegungslos. Er stirbt, er stirbt! rief Jeschka verzweiflungsvoll, das Kind vergessend. Rufe meinen Mann! sagte erschrocken die Alte, und Jeschka flog davon, den alten Pfarrer zu holen. 9. Eine Erschöpfung zum Tode war über David gekommen, in der ihm sein ganzes vergangnes Leben schwand, in der ihn die Zukunft nicht kümmerte und nur der kurze Augenblick, in dem er hin und wieder zu sich kam, für ihn Bedeutung hatte. Wochen gingen dahin, und er hatte sich gewöhnt, von der freundlichen, milden alten Frau gepflegt und abgewartet zu werden, ohne auch nur den Wunsch zu hegen, näheres über sie und die Art zu erfahren, wie er in dies helle, freundliche Zimmer und dies reinliche, weiße Bett ge¬ kommen war. Wenn die Fenster offen standen, zog würziger Blumenduft in das Stübchen, Vögelgesang erklang, und als er anfing, wieder zu denken, merkte er, daß ihm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/375>, abgerufen am 01.05.2024.