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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Getreu bis in den Tod.

icht einen Abriß über die Geschichte seines ruhmreichen Lebens,
nicht eine Darstellung seiner segensreichen Negierung wollen wir
geben, wir wollen Klage erheben an dem Sarge des Ober¬
hauptes unsers Volkes, klagen um den Tod des ersten deutschen
Kaisers, der nach Jahrhunderten der Zersplitterung das Reich
neu begründete, die Sehnsucht unsrer Jugendträume stillte und dem deutschen
Namen einen mächtigen Klang schuf unter den Völkern der Erde. Ein Held ist
Zu seinen Vätern versammelt, ein Friedensfürst ist in den ewigen Frieden ein¬
gegangen, ein leuchtendes Vorbild seines Volkes und die Verkörperung alles
dessen, was uns Lebenden teuer war, ist erloschen. Schon bei seinen Lebzeiten
wand sich ein Sagenkreis um den greisen Kaiser, der längst das biblische Alter
überschritten hatte und doch noch in frischer Geisteskraft nicht bloß dem eignen
Volke gebot, sondern im Rate der Machthaber das höchste Ansehen genoß. Und
wie um den toten Helden in der antiken Tragödie das Volk weinte und klagte,
so übermannt auch uns angesichts der Leiche des großen ersten deutschen Kaisers
der Schmerz, und wir schämen uns nicht der Thränen, die unserm gepreßten
Herzen Luft machen.

Eine ganze geschichtliche Zeitfolge sinkt mit dem Kaiser Wilhelm ins Grab.
Die Erinnerung an Deutschlands Schmach, an die französische Gewaltherr¬
schaft, an die Bedrückung des deutschen Volkes und an die zahlreichen Dulder
und Dulderinnen, unter ihnen an die Königin Luise -- sie hatten noch einen
Lebendigen Zeugen in dem Sohne der königlichen Märtyrerin, dem in früher
äugend der Kummer um das geknechtete Land die treue Mutter entriß. Und
das Wiedererwachen deutschen Mutes, das kraftvolle Abschütteln der fremden
Knechtschaft, die Freiheitskriege, die salaminischen Kämpfe unsrer Großväter und


Grenzboten I. 1888. 72


Getreu bis in den Tod.

icht einen Abriß über die Geschichte seines ruhmreichen Lebens,
nicht eine Darstellung seiner segensreichen Negierung wollen wir
geben, wir wollen Klage erheben an dem Sarge des Ober¬
hauptes unsers Volkes, klagen um den Tod des ersten deutschen
Kaisers, der nach Jahrhunderten der Zersplitterung das Reich
neu begründete, die Sehnsucht unsrer Jugendträume stillte und dem deutschen
Namen einen mächtigen Klang schuf unter den Völkern der Erde. Ein Held ist
Zu seinen Vätern versammelt, ein Friedensfürst ist in den ewigen Frieden ein¬
gegangen, ein leuchtendes Vorbild seines Volkes und die Verkörperung alles
dessen, was uns Lebenden teuer war, ist erloschen. Schon bei seinen Lebzeiten
wand sich ein Sagenkreis um den greisen Kaiser, der längst das biblische Alter
überschritten hatte und doch noch in frischer Geisteskraft nicht bloß dem eignen
Volke gebot, sondern im Rate der Machthaber das höchste Ansehen genoß. Und
wie um den toten Helden in der antiken Tragödie das Volk weinte und klagte,
so übermannt auch uns angesichts der Leiche des großen ersten deutschen Kaisers
der Schmerz, und wir schämen uns nicht der Thränen, die unserm gepreßten
Herzen Luft machen.

Eine ganze geschichtliche Zeitfolge sinkt mit dem Kaiser Wilhelm ins Grab.
Die Erinnerung an Deutschlands Schmach, an die französische Gewaltherr¬
schaft, an die Bedrückung des deutschen Volkes und an die zahlreichen Dulder
und Dulderinnen, unter ihnen an die Königin Luise — sie hatten noch einen
Lebendigen Zeugen in dem Sohne der königlichen Märtyrerin, dem in früher
äugend der Kummer um das geknechtete Land die treue Mutter entriß. Und
das Wiedererwachen deutschen Mutes, das kraftvolle Abschütteln der fremden
Knechtschaft, die Freiheitskriege, die salaminischen Kämpfe unsrer Großväter und


Grenzboten I. 1888. 72
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[0577] [Abbildung] Getreu bis in den Tod. icht einen Abriß über die Geschichte seines ruhmreichen Lebens, nicht eine Darstellung seiner segensreichen Negierung wollen wir geben, wir wollen Klage erheben an dem Sarge des Ober¬ hauptes unsers Volkes, klagen um den Tod des ersten deutschen Kaisers, der nach Jahrhunderten der Zersplitterung das Reich neu begründete, die Sehnsucht unsrer Jugendträume stillte und dem deutschen Namen einen mächtigen Klang schuf unter den Völkern der Erde. Ein Held ist Zu seinen Vätern versammelt, ein Friedensfürst ist in den ewigen Frieden ein¬ gegangen, ein leuchtendes Vorbild seines Volkes und die Verkörperung alles dessen, was uns Lebenden teuer war, ist erloschen. Schon bei seinen Lebzeiten wand sich ein Sagenkreis um den greisen Kaiser, der längst das biblische Alter überschritten hatte und doch noch in frischer Geisteskraft nicht bloß dem eignen Volke gebot, sondern im Rate der Machthaber das höchste Ansehen genoß. Und wie um den toten Helden in der antiken Tragödie das Volk weinte und klagte, so übermannt auch uns angesichts der Leiche des großen ersten deutschen Kaisers der Schmerz, und wir schämen uns nicht der Thränen, die unserm gepreßten Herzen Luft machen. Eine ganze geschichtliche Zeitfolge sinkt mit dem Kaiser Wilhelm ins Grab. Die Erinnerung an Deutschlands Schmach, an die französische Gewaltherr¬ schaft, an die Bedrückung des deutschen Volkes und an die zahlreichen Dulder und Dulderinnen, unter ihnen an die Königin Luise — sie hatten noch einen Lebendigen Zeugen in dem Sohne der königlichen Märtyrerin, dem in früher äugend der Kummer um das geknechtete Land die treue Mutter entriß. Und das Wiedererwachen deutschen Mutes, das kraftvolle Abschütteln der fremden Knechtschaft, die Freiheitskriege, die salaminischen Kämpfe unsrer Großväter und Grenzboten I. 1888. 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/577>, abgerufen am 01.05.2024.