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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

IN Ende aller Tage wird es bekanntlich wieder so sein, wie im
Anfang der Dinge: das Lnnnn wird neben dein Löwen ruhen,
und Sonne und Mond werden kein verschiedenes Licht mehr
spenden. Da es aber bis dahin voraussichtlich noch lange dauern
kann, so stehen von Zeit zu Zeit wunderliche Propheten ans,
die, wenn nicht für den Erdkreis, so doch für ein und das andre Gebiet das
Ende vorausnehmen, die bisherigen Unterschiede aufheben und das goldene
Zeitalter verkünden, in dem alle hemmenden Schranken fallen werden. Eine
hemmende Schranke kann man freilich auch den Damm nennen, der den Strom
zwar nicht hindert, in seinem eignen Bett zu fließen, das Land zu befrachten,
ins Meer zu rauschen, aber der ihm doch verbietet, Meilen Feldes und Waldes
zu überschwemmen und Schlamm und Lachen als Malzeichen seiner über¬
schäumenden Kraft zu hinterlassen. Doch in diesem Lichte wollen die oben¬
genannten Propheten ihreOffenbnrnngen nicht gesehen wissen; wenn es denn auf
ein Bild hinauskommen soll, so meinen sie, daß sie zwei getrennte Ströme
zu vereinter Wirkung zusammenführen, einen versandeten Fluß durch die über-
schwellender Wasser eines andern wieder beleben wollen. In der Regel be¬
sagen solche der Jngenicnrwissenschaft entlehnte Bilder, daß mit einem längst
Bestehendem, in das allgemeine Bewußtsein Übergegairgeneii wohl oder übel
aufgeräumt werden soll. Zu den Anschauungen, deren Bestand neuerdings
in Frage gestellt wird und die in den Augen gewisser Männer des "Kultur¬
sortschritts" bereits dem Untergänge geweiht sind, gehört auch die uralte Erkenntnis,
daß Dichtung lind Wissenschaft grundverschiedenen Kräften entstammt sind, auf
grundverschiedenen Wegen und mit grundverschiedenen Mitteln ihre Ziele verfolgen,
und daß beide trotz eines Grenzgebiets, in das sie sich friedlich teilen müssen,
getrennte Reiche nach getrenntem Recht beherrschen. Ans dem Bewußtsein dieser
Verschiedenheit und der Freude an der daraus hervorgehenden Mannigfaltigkeit
beruht ein großer Teil, einer der besten Teile unsrer Bildung; je klarer die
Einsicht des Einzelnen in Wege und Mittel künstlerischer oder wissenschaftlicher
Thätigkeit, das Urteil über vollendete Leistungen des einen oder ander" Ge¬
biets ist, uni so höher haben wir es anzuschlagen. Am glücklichsten und
freiesten war natürlich immer diejenige Anschauung, die bei dem lebendigsten




Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

IN Ende aller Tage wird es bekanntlich wieder so sein, wie im
Anfang der Dinge: das Lnnnn wird neben dein Löwen ruhen,
und Sonne und Mond werden kein verschiedenes Licht mehr
spenden. Da es aber bis dahin voraussichtlich noch lange dauern
kann, so stehen von Zeit zu Zeit wunderliche Propheten ans,
die, wenn nicht für den Erdkreis, so doch für ein und das andre Gebiet das
Ende vorausnehmen, die bisherigen Unterschiede aufheben und das goldene
Zeitalter verkünden, in dem alle hemmenden Schranken fallen werden. Eine
hemmende Schranke kann man freilich auch den Damm nennen, der den Strom
zwar nicht hindert, in seinem eignen Bett zu fließen, das Land zu befrachten,
ins Meer zu rauschen, aber der ihm doch verbietet, Meilen Feldes und Waldes
zu überschwemmen und Schlamm und Lachen als Malzeichen seiner über¬
schäumenden Kraft zu hinterlassen. Doch in diesem Lichte wollen die oben¬
genannten Propheten ihreOffenbnrnngen nicht gesehen wissen; wenn es denn auf
ein Bild hinauskommen soll, so meinen sie, daß sie zwei getrennte Ströme
zu vereinter Wirkung zusammenführen, einen versandeten Fluß durch die über-
schwellender Wasser eines andern wieder beleben wollen. In der Regel be¬
sagen solche der Jngenicnrwissenschaft entlehnte Bilder, daß mit einem längst
Bestehendem, in das allgemeine Bewußtsein Übergegairgeneii wohl oder übel
aufgeräumt werden soll. Zu den Anschauungen, deren Bestand neuerdings
in Frage gestellt wird und die in den Augen gewisser Männer des „Kultur¬
sortschritts" bereits dem Untergänge geweiht sind, gehört auch die uralte Erkenntnis,
daß Dichtung lind Wissenschaft grundverschiedenen Kräften entstammt sind, auf
grundverschiedenen Wegen und mit grundverschiedenen Mitteln ihre Ziele verfolgen,
und daß beide trotz eines Grenzgebiets, in das sie sich friedlich teilen müssen,
getrennte Reiche nach getrenntem Recht beherrschen. Ans dem Bewußtsein dieser
Verschiedenheit und der Freude an der daraus hervorgehenden Mannigfaltigkeit
beruht ein großer Teil, einer der besten Teile unsrer Bildung; je klarer die
Einsicht des Einzelnen in Wege und Mittel künstlerischer oder wissenschaftlicher
Thätigkeit, das Urteil über vollendete Leistungen des einen oder ander» Ge¬
biets ist, uni so höher haben wir es anzuschlagen. Am glücklichsten und
freiesten war natürlich immer diejenige Anschauung, die bei dem lebendigsten


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[0142] [Abbildung] Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft IN Ende aller Tage wird es bekanntlich wieder so sein, wie im Anfang der Dinge: das Lnnnn wird neben dein Löwen ruhen, und Sonne und Mond werden kein verschiedenes Licht mehr spenden. Da es aber bis dahin voraussichtlich noch lange dauern kann, so stehen von Zeit zu Zeit wunderliche Propheten ans, die, wenn nicht für den Erdkreis, so doch für ein und das andre Gebiet das Ende vorausnehmen, die bisherigen Unterschiede aufheben und das goldene Zeitalter verkünden, in dem alle hemmenden Schranken fallen werden. Eine hemmende Schranke kann man freilich auch den Damm nennen, der den Strom zwar nicht hindert, in seinem eignen Bett zu fließen, das Land zu befrachten, ins Meer zu rauschen, aber der ihm doch verbietet, Meilen Feldes und Waldes zu überschwemmen und Schlamm und Lachen als Malzeichen seiner über¬ schäumenden Kraft zu hinterlassen. Doch in diesem Lichte wollen die oben¬ genannten Propheten ihreOffenbnrnngen nicht gesehen wissen; wenn es denn auf ein Bild hinauskommen soll, so meinen sie, daß sie zwei getrennte Ströme zu vereinter Wirkung zusammenführen, einen versandeten Fluß durch die über- schwellender Wasser eines andern wieder beleben wollen. In der Regel be¬ sagen solche der Jngenicnrwissenschaft entlehnte Bilder, daß mit einem längst Bestehendem, in das allgemeine Bewußtsein Übergegairgeneii wohl oder übel aufgeräumt werden soll. Zu den Anschauungen, deren Bestand neuerdings in Frage gestellt wird und die in den Augen gewisser Männer des „Kultur¬ sortschritts" bereits dem Untergänge geweiht sind, gehört auch die uralte Erkenntnis, daß Dichtung lind Wissenschaft grundverschiedenen Kräften entstammt sind, auf grundverschiedenen Wegen und mit grundverschiedenen Mitteln ihre Ziele verfolgen, und daß beide trotz eines Grenzgebiets, in das sie sich friedlich teilen müssen, getrennte Reiche nach getrenntem Recht beherrschen. Ans dem Bewußtsein dieser Verschiedenheit und der Freude an der daraus hervorgehenden Mannigfaltigkeit beruht ein großer Teil, einer der besten Teile unsrer Bildung; je klarer die Einsicht des Einzelnen in Wege und Mittel künstlerischer oder wissenschaftlicher Thätigkeit, das Urteil über vollendete Leistungen des einen oder ander» Ge¬ biets ist, uni so höher haben wir es anzuschlagen. Am glücklichsten und freiesten war natürlich immer diejenige Anschauung, die bei dem lebendigsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/142>, abgerufen am 05.05.2024.