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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

und stärksten Gefühl für die Besonderheit der Kunst und der Wissenschaft die
Wirkungen beider in einer höheren geistigen Einheit zu binden weiß. Schillers
Wort: ,,Jeder individuelle Mensch trägt der Anlage und Bestinunnng nach eine"
idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen
ni'wechslnngen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist,"^) gilt
noch innrer und wird innrer wieder gelten. Und darüber ist kein Streit, das;
der so gebildete, so gerichtete Mensch den bloßen Knnstschwelger, der im Genuß
einer Kunst gleichsam untergeht (übrigens für die poetische Kunst verhältnis¬
mäßig selten ist) und den wissenschaftlichen Fnchfaimtiker, den das Wachstum
seines Zweiges erfreut, sollte darüber auch der ganze Baum der Wissenschaft
und der der Menschheit dazu absterben, weit überragt. Aber der Schwelger
wie der Fanatiker sind dennoch dein traurigen Philister vorzuziehen, der von
der Wissenschaft den dürftigsten Nützlichkeitsbegriff nud von der Kunst im
Grunde gar keinen Begriff hat, nud sie schade" jedenfalls weniger als die un¬
klaren Neuerer und unberufenen Apostel, die von Zeit zu Zeit den Untergang
der spezifischen Kunst verkünde" "ut ihren eignen Stumpfsinn gegen das Schöne
ohne weiteres dein Jahrhundert Ansprecher. In einen? Punkte haben sie freilich
Recht. Wie es Zeiten giebt, in denen das bestimmteste und lebhafteste Gefühl
für den Wert und die Bedeutung der Poesie lebt, so scheint in andern Zeiten
dies Gefühl einzuschrumpfen. Trotz allen Bildnugsschwindels unsrer Tage
sind Erscheinungen möglich, wie die ,,Bacon - Shakespeare-Theorie," wonach
die Dramen Shakespeares nicht von einen? "ungebildeten Dichter," sondern
von einem hochgebildeten und vielseitig unterrichteten Philosophen herrühren,
und das Genie, welches ,,Hamlet" und ,,Lear," ,,Romeo und Julin" und
den "Sommernachtstraum" geschaut und gestaltet hat, nur ein Anhängsel, ja
ein Ausfluß des Geistes ist, der die Methodologie der Wissenschaften und die
Philosophie auf naturwissenschaftlicher Grundlage gefördert hat. Und trotz
des Kathedergeredes von poetischer Unmittelbarkeit und Naturfrische in der
Dichtung, drängt sich eine neue Litteraturthevrie immer gewaltsamer, gleichsam
mit Ellbogenstößen in den Bordergrund, eilte Theorie, wonach die moderne
Poetische Litteratur, dramatische wie erzählende, durchaus nur auf wissenschaft¬
licher Grundlage gedeihen könne. Im Grnnde würden die Verfechter dieser
Theorie am liebsten anch den Gebrauch des Beiwortes "poetisch" fallen lassen,
wenn sie nicht fürchtete", daß damit die beanspruchte Alleinherrschaft über das
Litteraturgebiet in Frage gestellt wäre.

Goethe, der unbequemerweise nicht zu den Dichtern, die nicht lesen und
schreiben konnten, gerechnet werden darf, und den? auch die neuesten Ästhetiker
der wissenschaftlich begründeten Darstellung die Fähigkeit des Beobachters und
der Vergleichung, des Naturstudiums im weitesten Sinne des Worts, nicht



Briefe iwer die ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief.
Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

und stärksten Gefühl für die Besonderheit der Kunst und der Wissenschaft die
Wirkungen beider in einer höheren geistigen Einheit zu binden weiß. Schillers
Wort: ,,Jeder individuelle Mensch trägt der Anlage und Bestinunnng nach eine»
idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen
ni'wechslnngen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist,"^) gilt
noch innrer und wird innrer wieder gelten. Und darüber ist kein Streit, das;
der so gebildete, so gerichtete Mensch den bloßen Knnstschwelger, der im Genuß
einer Kunst gleichsam untergeht (übrigens für die poetische Kunst verhältnis¬
mäßig selten ist) und den wissenschaftlichen Fnchfaimtiker, den das Wachstum
seines Zweiges erfreut, sollte darüber auch der ganze Baum der Wissenschaft
und der der Menschheit dazu absterben, weit überragt. Aber der Schwelger
wie der Fanatiker sind dennoch dein traurigen Philister vorzuziehen, der von
der Wissenschaft den dürftigsten Nützlichkeitsbegriff nud von der Kunst im
Grunde gar keinen Begriff hat, nud sie schade» jedenfalls weniger als die un¬
klaren Neuerer und unberufenen Apostel, die von Zeit zu Zeit den Untergang
der spezifischen Kunst verkünde» »ut ihren eignen Stumpfsinn gegen das Schöne
ohne weiteres dein Jahrhundert Ansprecher. In einen? Punkte haben sie freilich
Recht. Wie es Zeiten giebt, in denen das bestimmteste und lebhafteste Gefühl
für den Wert und die Bedeutung der Poesie lebt, so scheint in andern Zeiten
dies Gefühl einzuschrumpfen. Trotz allen Bildnugsschwindels unsrer Tage
sind Erscheinungen möglich, wie die ,,Bacon - Shakespeare-Theorie," wonach
die Dramen Shakespeares nicht von einen? „ungebildeten Dichter," sondern
von einem hochgebildeten und vielseitig unterrichteten Philosophen herrühren,
und das Genie, welches ,,Hamlet" und ,,Lear," ,,Romeo und Julin" und
den „Sommernachtstraum" geschaut und gestaltet hat, nur ein Anhängsel, ja
ein Ausfluß des Geistes ist, der die Methodologie der Wissenschaften und die
Philosophie auf naturwissenschaftlicher Grundlage gefördert hat. Und trotz
des Kathedergeredes von poetischer Unmittelbarkeit und Naturfrische in der
Dichtung, drängt sich eine neue Litteraturthevrie immer gewaltsamer, gleichsam
mit Ellbogenstößen in den Bordergrund, eilte Theorie, wonach die moderne
Poetische Litteratur, dramatische wie erzählende, durchaus nur auf wissenschaft¬
licher Grundlage gedeihen könne. Im Grnnde würden die Verfechter dieser
Theorie am liebsten anch den Gebrauch des Beiwortes „poetisch" fallen lassen,
wenn sie nicht fürchtete», daß damit die beanspruchte Alleinherrschaft über das
Litteraturgebiet in Frage gestellt wäre.

Goethe, der unbequemerweise nicht zu den Dichtern, die nicht lesen und
schreiben konnten, gerechnet werden darf, und den? auch die neuesten Ästhetiker
der wissenschaftlich begründeten Darstellung die Fähigkeit des Beobachters und
der Vergleichung, des Naturstudiums im weitesten Sinne des Worts, nicht



Briefe iwer die ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief.
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[0143] Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft und stärksten Gefühl für die Besonderheit der Kunst und der Wissenschaft die Wirkungen beider in einer höheren geistigen Einheit zu binden weiß. Schillers Wort: ,,Jeder individuelle Mensch trägt der Anlage und Bestinunnng nach eine» idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen ni'wechslnngen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist,"^) gilt noch innrer und wird innrer wieder gelten. Und darüber ist kein Streit, das; der so gebildete, so gerichtete Mensch den bloßen Knnstschwelger, der im Genuß einer Kunst gleichsam untergeht (übrigens für die poetische Kunst verhältnis¬ mäßig selten ist) und den wissenschaftlichen Fnchfaimtiker, den das Wachstum seines Zweiges erfreut, sollte darüber auch der ganze Baum der Wissenschaft und der der Menschheit dazu absterben, weit überragt. Aber der Schwelger wie der Fanatiker sind dennoch dein traurigen Philister vorzuziehen, der von der Wissenschaft den dürftigsten Nützlichkeitsbegriff nud von der Kunst im Grunde gar keinen Begriff hat, nud sie schade» jedenfalls weniger als die un¬ klaren Neuerer und unberufenen Apostel, die von Zeit zu Zeit den Untergang der spezifischen Kunst verkünde» »ut ihren eignen Stumpfsinn gegen das Schöne ohne weiteres dein Jahrhundert Ansprecher. In einen? Punkte haben sie freilich Recht. Wie es Zeiten giebt, in denen das bestimmteste und lebhafteste Gefühl für den Wert und die Bedeutung der Poesie lebt, so scheint in andern Zeiten dies Gefühl einzuschrumpfen. Trotz allen Bildnugsschwindels unsrer Tage sind Erscheinungen möglich, wie die ,,Bacon - Shakespeare-Theorie," wonach die Dramen Shakespeares nicht von einen? „ungebildeten Dichter," sondern von einem hochgebildeten und vielseitig unterrichteten Philosophen herrühren, und das Genie, welches ,,Hamlet" und ,,Lear," ,,Romeo und Julin" und den „Sommernachtstraum" geschaut und gestaltet hat, nur ein Anhängsel, ja ein Ausfluß des Geistes ist, der die Methodologie der Wissenschaften und die Philosophie auf naturwissenschaftlicher Grundlage gefördert hat. Und trotz des Kathedergeredes von poetischer Unmittelbarkeit und Naturfrische in der Dichtung, drängt sich eine neue Litteraturthevrie immer gewaltsamer, gleichsam mit Ellbogenstößen in den Bordergrund, eilte Theorie, wonach die moderne Poetische Litteratur, dramatische wie erzählende, durchaus nur auf wissenschaft¬ licher Grundlage gedeihen könne. Im Grnnde würden die Verfechter dieser Theorie am liebsten anch den Gebrauch des Beiwortes „poetisch" fallen lassen, wenn sie nicht fürchtete», daß damit die beanspruchte Alleinherrschaft über das Litteraturgebiet in Frage gestellt wäre. Goethe, der unbequemerweise nicht zu den Dichtern, die nicht lesen und schreiben konnten, gerechnet werden darf, und den? auch die neuesten Ästhetiker der wissenschaftlich begründeten Darstellung die Fähigkeit des Beobachters und der Vergleichung, des Naturstudiums im weitesten Sinne des Worts, nicht Briefe iwer die ästhetische Erziehung des Menschen. Vierter Brief.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/143>, abgerufen am 25.05.2024.