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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

nicht, ja sie haben zum Teil keine Ahnung davon, daß unsre Sprache von Tag
zu Tage mehr durch viel schlimmere Dinge verunreinigt wird, als durch die Fremd¬
wörter: durch grammatische Sudelei. Einzelne verfallen in den Fehler der alten
Puristen, sie verkennen, daß es ein arger Rückschritt sein würde, wenn Deutschland
durch Aufgeben der allgemein giltigen Fachausdrücke sich selbst den internationalen
wissenschaftlichen Verkehr erschweren wollte. Solche Thorheit wollen wir den Völkern
überlassen, um deren wissenschaftliche Arbeit sich die gebildete Welt nicht zu kümmern
braucht. Es muß zugegeben werden, daß die Grenze zwischen dem Ballast und
dem notwendigen nicht immer leicht zu ziehen ist, aber in solchen Fällen wird
man lieber ein Wort zu viel als eins zu wenig bewahren. Zum Beispiel. In
dem Organ des Wiener Sprachvereins ("Deutsche Zeitung") veröffentlicht ein Che¬
miker eine Liste von Fremdwörtern, die in den chemischen Gewerben gäng und
gäbe und nach seiner Meinung dnrch deutsche zu ersetzen sind. Mit vielem kann
man sich einverstanden erklären, in manchem geht er zu weit, so wenn Glasur
ausgemerzt und durch Schmelzdecke oder Ueberglasuug, Lüster durch Schimmer,
Hautfarbe, Schmelzglanz, gaufriren durch pressen, musterpressen, Nuance durch Ab¬
tönung, Falbenverschiedenheit, Paviermachö durch Papiermasse, planircn und sati-
niren durch glätten ersetzt werden soll. Die deutschen Ausdrücke haben entweder
bereits einen andern bestimmten Sinn, oder treffen nicht vollständig die Bedeutung
der fremdsprachigen. Ebenso ist es mit deu Uebersetzungen von Appretur, Areo-
meter, Atom (Urteilchen -- wobei man an ein kleines Urteil denkt!), Reagens
und Reaktion, Neservage u. a., Fremdwörter, die den Vorzug haben, daß man
in allen zivttisirten Ländern unter ihnen genau dasselbe versteht. Der Vorteil ist
groß genug, um den Schaden aufzuwiegen. Oder sollen etwa ans der Botanik,
Zoologie u. s. w. die lateinischen und griechischen (oder immerhin barbarischen) Be¬
nennungen verbannt werden? Gedenket des Wahlspruchs Solons!




Litteratur
Grundzüge der staatlichen und geistigen Entwicklung der europäischen Völker.
Von Richard Mahrenhvltz und August Wünsche. Opp'ein und Leipzig, Eugen Francks
Buchhandlung, 1888

Der Inhalt dieses Buches entspricht nicht recht dem Titel, nach welchem wir
allgemeine Ergebnisse gcschichtsphilosophischer Betrachtung erwarten, während hier
weniger philosophirt als erzählt wird, und nur einige Hauptthatsachen des euro¬
päischen Staats- und Kulturlebens in einzelnen Bildern dargestellt werden. Doch
sind diese Bilder, richtiger diese Skizzen, auf Grund so guter Kenntnis der Gegen¬
stände und mit so geschickter Hand gezeichnet, daß wir auf jenen Umstand nicht
viel Gewicht legen und das Buch als ein solches empfehlen dürfen, welches zwar
nichts oder wenig neues, aber das dem gebildete" Publikum aus zusammenhängenden
Geschichtswerken bekannte in ansprechender Form nochmals vorträgt. Der erste
Abschnitt beschäftigt sich nach einem einleitenden Blick auf den sich auflösenden


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nicht, ja sie haben zum Teil keine Ahnung davon, daß unsre Sprache von Tag
zu Tage mehr durch viel schlimmere Dinge verunreinigt wird, als durch die Fremd¬
wörter: durch grammatische Sudelei. Einzelne verfallen in den Fehler der alten
Puristen, sie verkennen, daß es ein arger Rückschritt sein würde, wenn Deutschland
durch Aufgeben der allgemein giltigen Fachausdrücke sich selbst den internationalen
wissenschaftlichen Verkehr erschweren wollte. Solche Thorheit wollen wir den Völkern
überlassen, um deren wissenschaftliche Arbeit sich die gebildete Welt nicht zu kümmern
braucht. Es muß zugegeben werden, daß die Grenze zwischen dem Ballast und
dem notwendigen nicht immer leicht zu ziehen ist, aber in solchen Fällen wird
man lieber ein Wort zu viel als eins zu wenig bewahren. Zum Beispiel. In
dem Organ des Wiener Sprachvereins („Deutsche Zeitung") veröffentlicht ein Che¬
miker eine Liste von Fremdwörtern, die in den chemischen Gewerben gäng und
gäbe und nach seiner Meinung dnrch deutsche zu ersetzen sind. Mit vielem kann
man sich einverstanden erklären, in manchem geht er zu weit, so wenn Glasur
ausgemerzt und durch Schmelzdecke oder Ueberglasuug, Lüster durch Schimmer,
Hautfarbe, Schmelzglanz, gaufriren durch pressen, musterpressen, Nuance durch Ab¬
tönung, Falbenverschiedenheit, Paviermachö durch Papiermasse, planircn und sati-
niren durch glätten ersetzt werden soll. Die deutschen Ausdrücke haben entweder
bereits einen andern bestimmten Sinn, oder treffen nicht vollständig die Bedeutung
der fremdsprachigen. Ebenso ist es mit deu Uebersetzungen von Appretur, Areo-
meter, Atom (Urteilchen — wobei man an ein kleines Urteil denkt!), Reagens
und Reaktion, Neservage u. a., Fremdwörter, die den Vorzug haben, daß man
in allen zivttisirten Ländern unter ihnen genau dasselbe versteht. Der Vorteil ist
groß genug, um den Schaden aufzuwiegen. Oder sollen etwa ans der Botanik,
Zoologie u. s. w. die lateinischen und griechischen (oder immerhin barbarischen) Be¬
nennungen verbannt werden? Gedenket des Wahlspruchs Solons!




Litteratur
Grundzüge der staatlichen und geistigen Entwicklung der europäischen Völker.
Von Richard Mahrenhvltz und August Wünsche. Opp'ein und Leipzig, Eugen Francks
Buchhandlung, 1888

Der Inhalt dieses Buches entspricht nicht recht dem Titel, nach welchem wir
allgemeine Ergebnisse gcschichtsphilosophischer Betrachtung erwarten, während hier
weniger philosophirt als erzählt wird, und nur einige Hauptthatsachen des euro¬
päischen Staats- und Kulturlebens in einzelnen Bildern dargestellt werden. Doch
sind diese Bilder, richtiger diese Skizzen, auf Grund so guter Kenntnis der Gegen¬
stände und mit so geschickter Hand gezeichnet, daß wir auf jenen Umstand nicht
viel Gewicht legen und das Buch als ein solches empfehlen dürfen, welches zwar
nichts oder wenig neues, aber das dem gebildete» Publikum aus zusammenhängenden
Geschichtswerken bekannte in ansprechender Form nochmals vorträgt. Der erste
Abschnitt beschäftigt sich nach einem einleitenden Blick auf den sich auflösenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/202>, abgerufen am 05.05.2024.