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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt,
und worin besteht er?
i

aß die Menschheit im Wissen und im technischen Können die
erstaunlichsten Fortschritte macht, wird von niemand Gestritten.
Dagegen gehen die Meinungen weit aus einander, wenn nach
der Sittlichkeit und der Glückseligkeit gefragt wird. Wir be¬
schränken uns hier auf die erstere und gedenken einen Ausweg
aus dem Labyrinth zu zeigen, der nicht neu, aber bisher wenig beachtet
worden ist.

Die entgegengesetzten Theorien der Philosophen und Geschichtschreiber
erfreuen sich ungefähr der gleichen Zahl von Anhängern, weil die Stimmungen,
denen sie zusagen, ziemlich gleichmäßig verteilt send. Die Alten -- und der
Melancholiker wird alt geboren -- sind Pessimisten, die Jungen -- und der
Sanguiniker bleibt zeitlebens jung -- sind Optimisten. Von den Schulen, die
an den Fortschritt der Sittlichkeit glauben, wollen wir nur drei ins Auge
fassen.

Hegel beschreibt sehr schön, wie sich die mit der Sittlichkeit aufs innigste
verbundene Religion von der Natnranbetung durch die Geistesanbetuug zum
Glauben an die Menschwerdung Gottes erhebt, wie dann das Christentum im
Katholizismus lange Zeit auf der Stufe der unfreien Sittlichkeit verharrt, um
sich im Protestnutismns zur Freiheit durchzuringen, und wie endlich im Geiste
der Regierungen und der Völker die Weltweisheit erwacht und an die Stelle
des der Menschheit gegenüberstehenden Heiligen (sagen wir deutlicher um die
Stelle Gottes) der Staat tritt, der "die selbstbewußte sittliche Substanz" ist.
(Diese Definition des Staates findet sich in der Ausgabe von 1832, Band 7,
S. 403.) Hegel hat es unterlassen, die Triebkraft seines dialektischen Prozesses
auch noch im letzten Stadium weiterwirken zu lassen und zu fragen, ob nicht
auch dieser Begriff der selbstbewußten sittlichen Substanz, gleich allen andern
Begriffen, sein Gegenteil in sich schließe und von diesem aufgehoben werde.
In der That ist dies der Fall, und es liegt nicht die mindeste Übertreibung
in dem Satze, daß der vollkommen sittliche Staat ein Staat ohne alle Sitt-




Giebt es einen sittlichen Fortschritt,
und worin besteht er?
i

aß die Menschheit im Wissen und im technischen Können die
erstaunlichsten Fortschritte macht, wird von niemand Gestritten.
Dagegen gehen die Meinungen weit aus einander, wenn nach
der Sittlichkeit und der Glückseligkeit gefragt wird. Wir be¬
schränken uns hier auf die erstere und gedenken einen Ausweg
aus dem Labyrinth zu zeigen, der nicht neu, aber bisher wenig beachtet
worden ist.

Die entgegengesetzten Theorien der Philosophen und Geschichtschreiber
erfreuen sich ungefähr der gleichen Zahl von Anhängern, weil die Stimmungen,
denen sie zusagen, ziemlich gleichmäßig verteilt send. Die Alten — und der
Melancholiker wird alt geboren — sind Pessimisten, die Jungen — und der
Sanguiniker bleibt zeitlebens jung — sind Optimisten. Von den Schulen, die
an den Fortschritt der Sittlichkeit glauben, wollen wir nur drei ins Auge
fassen.

Hegel beschreibt sehr schön, wie sich die mit der Sittlichkeit aufs innigste
verbundene Religion von der Natnranbetung durch die Geistesanbetuug zum
Glauben an die Menschwerdung Gottes erhebt, wie dann das Christentum im
Katholizismus lange Zeit auf der Stufe der unfreien Sittlichkeit verharrt, um
sich im Protestnutismns zur Freiheit durchzuringen, und wie endlich im Geiste
der Regierungen und der Völker die Weltweisheit erwacht und an die Stelle
des der Menschheit gegenüberstehenden Heiligen (sagen wir deutlicher um die
Stelle Gottes) der Staat tritt, der „die selbstbewußte sittliche Substanz" ist.
(Diese Definition des Staates findet sich in der Ausgabe von 1832, Band 7,
S. 403.) Hegel hat es unterlassen, die Triebkraft seines dialektischen Prozesses
auch noch im letzten Stadium weiterwirken zu lassen und zu fragen, ob nicht
auch dieser Begriff der selbstbewußten sittlichen Substanz, gleich allen andern
Begriffen, sein Gegenteil in sich schließe und von diesem aufgehoben werde.
In der That ist dies der Fall, und es liegt nicht die mindeste Übertreibung
in dem Satze, daß der vollkommen sittliche Staat ein Staat ohne alle Sitt-


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[0452] [Abbildung] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? i aß die Menschheit im Wissen und im technischen Können die erstaunlichsten Fortschritte macht, wird von niemand Gestritten. Dagegen gehen die Meinungen weit aus einander, wenn nach der Sittlichkeit und der Glückseligkeit gefragt wird. Wir be¬ schränken uns hier auf die erstere und gedenken einen Ausweg aus dem Labyrinth zu zeigen, der nicht neu, aber bisher wenig beachtet worden ist. Die entgegengesetzten Theorien der Philosophen und Geschichtschreiber erfreuen sich ungefähr der gleichen Zahl von Anhängern, weil die Stimmungen, denen sie zusagen, ziemlich gleichmäßig verteilt send. Die Alten — und der Melancholiker wird alt geboren — sind Pessimisten, die Jungen — und der Sanguiniker bleibt zeitlebens jung — sind Optimisten. Von den Schulen, die an den Fortschritt der Sittlichkeit glauben, wollen wir nur drei ins Auge fassen. Hegel beschreibt sehr schön, wie sich die mit der Sittlichkeit aufs innigste verbundene Religion von der Natnranbetung durch die Geistesanbetuug zum Glauben an die Menschwerdung Gottes erhebt, wie dann das Christentum im Katholizismus lange Zeit auf der Stufe der unfreien Sittlichkeit verharrt, um sich im Protestnutismns zur Freiheit durchzuringen, und wie endlich im Geiste der Regierungen und der Völker die Weltweisheit erwacht und an die Stelle des der Menschheit gegenüberstehenden Heiligen (sagen wir deutlicher um die Stelle Gottes) der Staat tritt, der „die selbstbewußte sittliche Substanz" ist. (Diese Definition des Staates findet sich in der Ausgabe von 1832, Band 7, S. 403.) Hegel hat es unterlassen, die Triebkraft seines dialektischen Prozesses auch noch im letzten Stadium weiterwirken zu lassen und zu fragen, ob nicht auch dieser Begriff der selbstbewußten sittlichen Substanz, gleich allen andern Begriffen, sein Gegenteil in sich schließe und von diesem aufgehoben werde. In der That ist dies der Fall, und es liegt nicht die mindeste Übertreibung in dem Satze, daß der vollkommen sittliche Staat ein Staat ohne alle Sitt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/452>, abgerufen am 28.04.2024.