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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

lichkeit sein würde. Denn wenn sich der Staat nicht auf den Bereich des
Rechts beschränkt, wenn er kein Gebiet freier Sittlichkeit mehr übrig läßt, wenn
er jede unsittliche Handlung entweder gewaltsam verhindert oder bestraft und
durch seine vortrefflichen Einrichtungen alle freiwilligen Thaten der Nächsten¬
liebe teils überflüssig, teils unmöglich, teils sogar straffällig macht, daun ist
die Sittlichkeit gar nicht mehr vorhanden, denn es giebt keine Sittlichkeit ohne
Freiheit. Die Enthaltsamkeit ist dort keine Tugend mehr, wo das Gegenteil
physisch unmöglich wird. Die Barmherzigkeit stirbt ab, wo sie keine Gelegen¬
heit mehr hat, sich zu äußern, - weil der Staat jeden Einzelnen von der Wiege
bis zum Grabe zwangsweise mit allem versorgt, was er braucht und was ihm
vou Rechts wegen zukommt; kein Bater denkt mehr daran, sich sür seine Kinder
zu Tode zu arbeiten, da sie ja vom Staate versichert und versorgt werden,
und der jugendliche Arbeiter kaun nicht mehr daran denken, für feine verwitwete
Mutter und seine jüngern Geschwister zu sorgen, wenn ihm der Staat für
diesen Zweck von vornherein jeden Pfennig abnimmt, den er nicht zur Fristung
seines Lebens unbedingt nötig hat. Ja der Fall wäre sehr leicht denkbar,
daß in einem solchen Reiche erzwungener Sittlichkeit ein Mensch von edler
Gemütsart eine seiner Neigung widerstrebende Thorheit oder Schlechtigkeit
beginge, uur um das Bewußtsein seiner Freiheit nicht ganz zu verlieren, die
er durch sittliches Verhalten nicht mehr zu bewähren vermag. Übrigens paßt
auch der positive Inhalt, den Hegel der Sittlichkeit giebt, nur für gewisse
Zeiten und Gesellschaftszustände. In der Ehe und in der Korporation, sagt
er, habe sich die Sittlichkeit zu bethätigen; daher erklärt er die Eingehung der
Ehe für Pflicht, und was die Korporation anlangt, fo sieht er ohne eine solche
nicht nur die Erfüllung der Berufspflichten gefährdet, sondern auch deu Bürgern
des Großstaates die Möglichkeit genommen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, für
das Gemeinwohl zu wirken, was doch durch unmittelbare Beteiligung an der
Staatsverwaltung nicht geschehen könne. Heute haben wir keine Korporationen
mehr, die diesen Namen verdienten, und der Pflicht der Eheschließung tritt die
andre gegenüber, auf die Ehe zu verzichten, wenn man nicht in der Lage ist,
eine Familie standesgemäß zu ernähren. Mag nun auch in dem unbestrittenen
innigen Zusammenhange der Korporation und der Familie mit der Sittlichkeit
ein starker Antrieb liegen, die angedeuteten Mängel unsers Gesellschaftszustandes
zu überwinden, so kann doch nicht zugegeben werden, daß unsre Gesellschaft im
großen und ganzen unsittlich sei, so lange sie fortdauern. Demnach hat Hegel
den Inhalt der Sittlichkeit unvollständig und einseitig angegeben, und ihr
Fortschritt in seinem Sinne könnte höchstens mit dein Borbehalt anerkannt
werden, daß er sein -Ziel niemals erreichen dürfe, weil, sobald dies geschieht,
die Sittlichkeit aufgehoben wird.

Die Darwinianer sind nur dann berechtigt, von sittlichem Fortschritt zu
sprechen, wenn sie unter Fortschreiten verstehen: ein Bein vors andre setzen.


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

lichkeit sein würde. Denn wenn sich der Staat nicht auf den Bereich des
Rechts beschränkt, wenn er kein Gebiet freier Sittlichkeit mehr übrig läßt, wenn
er jede unsittliche Handlung entweder gewaltsam verhindert oder bestraft und
durch seine vortrefflichen Einrichtungen alle freiwilligen Thaten der Nächsten¬
liebe teils überflüssig, teils unmöglich, teils sogar straffällig macht, daun ist
die Sittlichkeit gar nicht mehr vorhanden, denn es giebt keine Sittlichkeit ohne
Freiheit. Die Enthaltsamkeit ist dort keine Tugend mehr, wo das Gegenteil
physisch unmöglich wird. Die Barmherzigkeit stirbt ab, wo sie keine Gelegen¬
heit mehr hat, sich zu äußern, - weil der Staat jeden Einzelnen von der Wiege
bis zum Grabe zwangsweise mit allem versorgt, was er braucht und was ihm
vou Rechts wegen zukommt; kein Bater denkt mehr daran, sich sür seine Kinder
zu Tode zu arbeiten, da sie ja vom Staate versichert und versorgt werden,
und der jugendliche Arbeiter kaun nicht mehr daran denken, für feine verwitwete
Mutter und seine jüngern Geschwister zu sorgen, wenn ihm der Staat für
diesen Zweck von vornherein jeden Pfennig abnimmt, den er nicht zur Fristung
seines Lebens unbedingt nötig hat. Ja der Fall wäre sehr leicht denkbar,
daß in einem solchen Reiche erzwungener Sittlichkeit ein Mensch von edler
Gemütsart eine seiner Neigung widerstrebende Thorheit oder Schlechtigkeit
beginge, uur um das Bewußtsein seiner Freiheit nicht ganz zu verlieren, die
er durch sittliches Verhalten nicht mehr zu bewähren vermag. Übrigens paßt
auch der positive Inhalt, den Hegel der Sittlichkeit giebt, nur für gewisse
Zeiten und Gesellschaftszustände. In der Ehe und in der Korporation, sagt
er, habe sich die Sittlichkeit zu bethätigen; daher erklärt er die Eingehung der
Ehe für Pflicht, und was die Korporation anlangt, fo sieht er ohne eine solche
nicht nur die Erfüllung der Berufspflichten gefährdet, sondern auch deu Bürgern
des Großstaates die Möglichkeit genommen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, für
das Gemeinwohl zu wirken, was doch durch unmittelbare Beteiligung an der
Staatsverwaltung nicht geschehen könne. Heute haben wir keine Korporationen
mehr, die diesen Namen verdienten, und der Pflicht der Eheschließung tritt die
andre gegenüber, auf die Ehe zu verzichten, wenn man nicht in der Lage ist,
eine Familie standesgemäß zu ernähren. Mag nun auch in dem unbestrittenen
innigen Zusammenhange der Korporation und der Familie mit der Sittlichkeit
ein starker Antrieb liegen, die angedeuteten Mängel unsers Gesellschaftszustandes
zu überwinden, so kann doch nicht zugegeben werden, daß unsre Gesellschaft im
großen und ganzen unsittlich sei, so lange sie fortdauern. Demnach hat Hegel
den Inhalt der Sittlichkeit unvollständig und einseitig angegeben, und ihr
Fortschritt in seinem Sinne könnte höchstens mit dein Borbehalt anerkannt
werden, daß er sein -Ziel niemals erreichen dürfe, weil, sobald dies geschieht,
die Sittlichkeit aufgehoben wird.

Die Darwinianer sind nur dann berechtigt, von sittlichem Fortschritt zu
sprechen, wenn sie unter Fortschreiten verstehen: ein Bein vors andre setzen.


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[0453] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? lichkeit sein würde. Denn wenn sich der Staat nicht auf den Bereich des Rechts beschränkt, wenn er kein Gebiet freier Sittlichkeit mehr übrig läßt, wenn er jede unsittliche Handlung entweder gewaltsam verhindert oder bestraft und durch seine vortrefflichen Einrichtungen alle freiwilligen Thaten der Nächsten¬ liebe teils überflüssig, teils unmöglich, teils sogar straffällig macht, daun ist die Sittlichkeit gar nicht mehr vorhanden, denn es giebt keine Sittlichkeit ohne Freiheit. Die Enthaltsamkeit ist dort keine Tugend mehr, wo das Gegenteil physisch unmöglich wird. Die Barmherzigkeit stirbt ab, wo sie keine Gelegen¬ heit mehr hat, sich zu äußern, - weil der Staat jeden Einzelnen von der Wiege bis zum Grabe zwangsweise mit allem versorgt, was er braucht und was ihm vou Rechts wegen zukommt; kein Bater denkt mehr daran, sich sür seine Kinder zu Tode zu arbeiten, da sie ja vom Staate versichert und versorgt werden, und der jugendliche Arbeiter kaun nicht mehr daran denken, für feine verwitwete Mutter und seine jüngern Geschwister zu sorgen, wenn ihm der Staat für diesen Zweck von vornherein jeden Pfennig abnimmt, den er nicht zur Fristung seines Lebens unbedingt nötig hat. Ja der Fall wäre sehr leicht denkbar, daß in einem solchen Reiche erzwungener Sittlichkeit ein Mensch von edler Gemütsart eine seiner Neigung widerstrebende Thorheit oder Schlechtigkeit beginge, uur um das Bewußtsein seiner Freiheit nicht ganz zu verlieren, die er durch sittliches Verhalten nicht mehr zu bewähren vermag. Übrigens paßt auch der positive Inhalt, den Hegel der Sittlichkeit giebt, nur für gewisse Zeiten und Gesellschaftszustände. In der Ehe und in der Korporation, sagt er, habe sich die Sittlichkeit zu bethätigen; daher erklärt er die Eingehung der Ehe für Pflicht, und was die Korporation anlangt, fo sieht er ohne eine solche nicht nur die Erfüllung der Berufspflichten gefährdet, sondern auch deu Bürgern des Großstaates die Möglichkeit genommen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, für das Gemeinwohl zu wirken, was doch durch unmittelbare Beteiligung an der Staatsverwaltung nicht geschehen könne. Heute haben wir keine Korporationen mehr, die diesen Namen verdienten, und der Pflicht der Eheschließung tritt die andre gegenüber, auf die Ehe zu verzichten, wenn man nicht in der Lage ist, eine Familie standesgemäß zu ernähren. Mag nun auch in dem unbestrittenen innigen Zusammenhange der Korporation und der Familie mit der Sittlichkeit ein starker Antrieb liegen, die angedeuteten Mängel unsers Gesellschaftszustandes zu überwinden, so kann doch nicht zugegeben werden, daß unsre Gesellschaft im großen und ganzen unsittlich sei, so lange sie fortdauern. Demnach hat Hegel den Inhalt der Sittlichkeit unvollständig und einseitig angegeben, und ihr Fortschritt in seinem Sinne könnte höchstens mit dein Borbehalt anerkannt werden, daß er sein -Ziel niemals erreichen dürfe, weil, sobald dies geschieht, die Sittlichkeit aufgehoben wird. Die Darwinianer sind nur dann berechtigt, von sittlichem Fortschritt zu sprechen, wenn sie unter Fortschreiten verstehen: ein Bein vors andre setzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/453>, abgerufen am 12.05.2024.