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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Christian Günther in Leipzig

nicht verschuldet, nicht in Betracht kommen. Man vergleiche damit die Ansicht
des Verfassers des erwähnten Aufsatzes, daß die Zurechnungsfähigkeit ein
Zweckmäßigkeitsbegriff sei, indem sie den Geisteszustand bezeichne, der als Vor¬
bedingung gelte, um die Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits den
Zustand, wo der Einzelne feine Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form
der Strafe anerkennen müsse.

Für die Gegenwart erscheint übrigens die Frage, ob der moralische
Schwachsinn als Strafausschließuugsgrund gelte, durch die Rechtsprechung des
Reichsgerichts in verneinenden Sinne erledigt. Auch für eine künftige Gesetz¬
gebung wird sie verneinend zu entscheiden sein, man müßte sich denn ent¬
schließen, moralisch schwachsinnige und Gewohnheitsverbrecher in Erziehungs-
odcr Sicherungsanstalten unterzubringen.




Christian Günther in Leipzig
Reinhard Kate von

in August 1717 kam der schlesische Dichter Christian Günther
in dem Alter von zweiundzwanzig Jahren aus Wittenberg nach
Leipzig. Als Student der Medizin hatte er in Wittenberg nur
wenig geleistet, auch sein Dichterruhm leuchtete bisher nur
schwach, er gründete sich nnr auf fabrikmäßige Gelegenheitsarbeit.
Da lockten ihn freundschaftliche Beziehungen und der R'uf der Leipziger Uni¬
versität, er betrat das "angenehme Pleißatheu," und uun beginnt, wie mit
einem Schlage ein Umschwung in seiner geistigen Entwicklung. Wie ein dunkler
Traum liegen die wüsten Erinnerungen des Wittenberger Aufenthaltes hinter
ihm, neues Hoffen, neues Wollen erfüllt ihn, über Erwarte" schnell er¬
stehe" dem jugeudschönen, geistvollen Manne gute Verbindungen, ihn selbst
umgiebt bald ein Kreis anregender Freunde, die in Leipzig die alte Schulzeit
aus Schweidnitz erneuern.

Im Vordergründe seiner Leipziger Gönner und Freunde steht Burknrd
Meute, der teilnehmende Förderer aller wissenschaftlichen und künstlerischen
Bestrebungen, der Dichter und Gelehrte und Vorsteher der Deutschen Gesell¬
schaft in Leipzig, der, wie Thomasius, darnach strebte, die herrschende latei¬
nische Sprache durch die Muttersprache zu verdrängen. Günther war durch
einen seiner schlesischen Freunde, der eine Tochter Meukes zur Braut hatte,


Christian Günther in Leipzig

nicht verschuldet, nicht in Betracht kommen. Man vergleiche damit die Ansicht
des Verfassers des erwähnten Aufsatzes, daß die Zurechnungsfähigkeit ein
Zweckmäßigkeitsbegriff sei, indem sie den Geisteszustand bezeichne, der als Vor¬
bedingung gelte, um die Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits den
Zustand, wo der Einzelne feine Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form
der Strafe anerkennen müsse.

Für die Gegenwart erscheint übrigens die Frage, ob der moralische
Schwachsinn als Strafausschließuugsgrund gelte, durch die Rechtsprechung des
Reichsgerichts in verneinenden Sinne erledigt. Auch für eine künftige Gesetz¬
gebung wird sie verneinend zu entscheiden sein, man müßte sich denn ent¬
schließen, moralisch schwachsinnige und Gewohnheitsverbrecher in Erziehungs-
odcr Sicherungsanstalten unterzubringen.




Christian Günther in Leipzig
Reinhard Kate von

in August 1717 kam der schlesische Dichter Christian Günther
in dem Alter von zweiundzwanzig Jahren aus Wittenberg nach
Leipzig. Als Student der Medizin hatte er in Wittenberg nur
wenig geleistet, auch sein Dichterruhm leuchtete bisher nur
schwach, er gründete sich nnr auf fabrikmäßige Gelegenheitsarbeit.
Da lockten ihn freundschaftliche Beziehungen und der R'uf der Leipziger Uni¬
versität, er betrat das „angenehme Pleißatheu," und uun beginnt, wie mit
einem Schlage ein Umschwung in seiner geistigen Entwicklung. Wie ein dunkler
Traum liegen die wüsten Erinnerungen des Wittenberger Aufenthaltes hinter
ihm, neues Hoffen, neues Wollen erfüllt ihn, über Erwarte» schnell er¬
stehe» dem jugeudschönen, geistvollen Manne gute Verbindungen, ihn selbst
umgiebt bald ein Kreis anregender Freunde, die in Leipzig die alte Schulzeit
aus Schweidnitz erneuern.

Im Vordergründe seiner Leipziger Gönner und Freunde steht Burknrd
Meute, der teilnehmende Förderer aller wissenschaftlichen und künstlerischen
Bestrebungen, der Dichter und Gelehrte und Vorsteher der Deutschen Gesell¬
schaft in Leipzig, der, wie Thomasius, darnach strebte, die herrschende latei¬
nische Sprache durch die Muttersprache zu verdrängen. Günther war durch
einen seiner schlesischen Freunde, der eine Tochter Meukes zur Braut hatte,


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[0074] Christian Günther in Leipzig nicht verschuldet, nicht in Betracht kommen. Man vergleiche damit die Ansicht des Verfassers des erwähnten Aufsatzes, daß die Zurechnungsfähigkeit ein Zweckmäßigkeitsbegriff sei, indem sie den Geisteszustand bezeichne, der als Vor¬ bedingung gelte, um die Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits den Zustand, wo der Einzelne feine Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen müsse. Für die Gegenwart erscheint übrigens die Frage, ob der moralische Schwachsinn als Strafausschließuugsgrund gelte, durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts in verneinenden Sinne erledigt. Auch für eine künftige Gesetz¬ gebung wird sie verneinend zu entscheiden sein, man müßte sich denn ent¬ schließen, moralisch schwachsinnige und Gewohnheitsverbrecher in Erziehungs- odcr Sicherungsanstalten unterzubringen. Christian Günther in Leipzig Reinhard Kate von in August 1717 kam der schlesische Dichter Christian Günther in dem Alter von zweiundzwanzig Jahren aus Wittenberg nach Leipzig. Als Student der Medizin hatte er in Wittenberg nur wenig geleistet, auch sein Dichterruhm leuchtete bisher nur schwach, er gründete sich nnr auf fabrikmäßige Gelegenheitsarbeit. Da lockten ihn freundschaftliche Beziehungen und der R'uf der Leipziger Uni¬ versität, er betrat das „angenehme Pleißatheu," und uun beginnt, wie mit einem Schlage ein Umschwung in seiner geistigen Entwicklung. Wie ein dunkler Traum liegen die wüsten Erinnerungen des Wittenberger Aufenthaltes hinter ihm, neues Hoffen, neues Wollen erfüllt ihn, über Erwarte» schnell er¬ stehe» dem jugeudschönen, geistvollen Manne gute Verbindungen, ihn selbst umgiebt bald ein Kreis anregender Freunde, die in Leipzig die alte Schulzeit aus Schweidnitz erneuern. Im Vordergründe seiner Leipziger Gönner und Freunde steht Burknrd Meute, der teilnehmende Förderer aller wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen, der Dichter und Gelehrte und Vorsteher der Deutschen Gesell¬ schaft in Leipzig, der, wie Thomasius, darnach strebte, die herrschende latei¬ nische Sprache durch die Muttersprache zu verdrängen. Günther war durch einen seiner schlesischen Freunde, der eine Tochter Meukes zur Braut hatte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/74>, abgerufen am 28.04.2024.