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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

Bedeutung ist, und umgekehrt, auf eiuer etlva schon erfolgten zivilrechtlichen
oder strafrechtlichen Entscheidung allein nicht zu fußen.

Mau wird deshalb den Satz 2 dahin aufstellen können:

Der Sachverständige hat hochgradigen Schwachsinn in der Regel dann anzu-
nehmen, wenn er die Entmimdignng wegen Blödsinns für möglich erachtet; andern¬
falls kann in der Ziegel nnr mindergradiger Schniachsinn. migenommen lverden.

Die landrechtliche Begriffsbestimmung: "Menschen, welchen das Vermögen,
die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden blödsinnig ge¬
nannt," dürfte dabei nur mit Vorsicht anzuwenden sein. Denn "die Fähig¬
keit, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, besitzt anch der geistig gesunde
Mensch uur in einem gewissen Grade, und zweifellos geisteskranken ist sie ander¬
seits nicht völlig abzusprechen."

Schließlich mag noch bemerkt werden, daß moralischer Schwachsinn als
solcher niemals die Strafansschließung begründen kann. Man versteht unter
moralischem Schwachsinn einen geistigen Zustand, bei dein die logischen Pro¬
zesse ungestört vor sich gehen, die Besonnenheit erhalten ist, Wahnideen und
Sinnestäuschungen ganz fehlen, der Mensch aber statt sittlich-rechtlicher
Motive nur Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit verwertet, das
Strafgesetz nur als eine Art polizeilicher Vorschriften beurteilt, und bei
diesem sittlichen und geistigen Mangel mehr oder weniger widerstandslos
seinen selbstsüchtigen Antrieben preisgegeben ist. Die Vertreter der entgegen¬
gesetzten Ansicht fußen ans dem Mangel der Widerstandskraft, sie sagen, daß
der Betreffende an der That ebenso unschuldig sei, wie bei angebornei"
Schwachsinn. Dieser Grund ist aber nicht stichhaltig und trifft bezüg¬
lich eines jeden Verbrechers, namentlich des gewohnheitsmäßigen schlimmen
Verbrechers zu. Die Gclvvhuheitsverbrechcr stammen meist ans dem. Pro¬
letariat, haben von frühester Jngend an in Berbrecherkreisen gelebt; wie soll
sich dn der Sinn für das Sittliche und die Widerstandskraft gegen das Un¬
sittliche entwickeln? Bei dem Schwachsinn im engern Wortsinne ist der wider¬
rechtliche Wille, gegen den sich die Strafe richtet, ausgeschlossen oder so
bedeutend vermindert, daß die Willensfreiheit ausgeschlossen ist, bei dem mora¬
lischen schwächst!,,, ist sowohl der widerrechtliche Wille, wie die Willensfreiheit
vorhanden. Wenn z. B. eine Person, um der Bestrafung ihrer Naschhaftigkeit
zu entgehen, ihren Mitwisser ermordet, so mag eine solche That unbegreiflich
erscheinen, es mag auch zugegeben werden, daß die Person aller sittlichen Be¬
griffe ermangelt und als moralisch schwachsinnig erachtet werden muß. Aber
wenn keine Thatsachen vorliegen, die ans eine krankhafte Störung der geistigen
Thätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird, hin¬
weisen, so muß die Bestrafung des moralisch Schwachsinnigen ebenso wie die
des Gewohnheitsverbrechers im Interesse der Gesellschaft unbedingt erfolgen,
die Ursachen des widerrechtlichen Willens können, gleichviel ob verschuldet oder


Grenzboten III 1M0 "
Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit

Bedeutung ist, und umgekehrt, auf eiuer etlva schon erfolgten zivilrechtlichen
oder strafrechtlichen Entscheidung allein nicht zu fußen.

Mau wird deshalb den Satz 2 dahin aufstellen können:

Der Sachverständige hat hochgradigen Schwachsinn in der Regel dann anzu-
nehmen, wenn er die Entmimdignng wegen Blödsinns für möglich erachtet; andern¬
falls kann in der Ziegel nnr mindergradiger Schniachsinn. migenommen lverden.

Die landrechtliche Begriffsbestimmung: „Menschen, welchen das Vermögen,
die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden blödsinnig ge¬
nannt," dürfte dabei nur mit Vorsicht anzuwenden sein. Denn „die Fähig¬
keit, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, besitzt anch der geistig gesunde
Mensch uur in einem gewissen Grade, und zweifellos geisteskranken ist sie ander¬
seits nicht völlig abzusprechen."

Schließlich mag noch bemerkt werden, daß moralischer Schwachsinn als
solcher niemals die Strafansschließung begründen kann. Man versteht unter
moralischem Schwachsinn einen geistigen Zustand, bei dein die logischen Pro¬
zesse ungestört vor sich gehen, die Besonnenheit erhalten ist, Wahnideen und
Sinnestäuschungen ganz fehlen, der Mensch aber statt sittlich-rechtlicher
Motive nur Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit verwertet, das
Strafgesetz nur als eine Art polizeilicher Vorschriften beurteilt, und bei
diesem sittlichen und geistigen Mangel mehr oder weniger widerstandslos
seinen selbstsüchtigen Antrieben preisgegeben ist. Die Vertreter der entgegen¬
gesetzten Ansicht fußen ans dem Mangel der Widerstandskraft, sie sagen, daß
der Betreffende an der That ebenso unschuldig sei, wie bei angebornei»
Schwachsinn. Dieser Grund ist aber nicht stichhaltig und trifft bezüg¬
lich eines jeden Verbrechers, namentlich des gewohnheitsmäßigen schlimmen
Verbrechers zu. Die Gclvvhuheitsverbrechcr stammen meist ans dem. Pro¬
letariat, haben von frühester Jngend an in Berbrecherkreisen gelebt; wie soll
sich dn der Sinn für das Sittliche und die Widerstandskraft gegen das Un¬
sittliche entwickeln? Bei dem Schwachsinn im engern Wortsinne ist der wider¬
rechtliche Wille, gegen den sich die Strafe richtet, ausgeschlossen oder so
bedeutend vermindert, daß die Willensfreiheit ausgeschlossen ist, bei dem mora¬
lischen schwächst!,,, ist sowohl der widerrechtliche Wille, wie die Willensfreiheit
vorhanden. Wenn z. B. eine Person, um der Bestrafung ihrer Naschhaftigkeit
zu entgehen, ihren Mitwisser ermordet, so mag eine solche That unbegreiflich
erscheinen, es mag auch zugegeben werden, daß die Person aller sittlichen Be¬
griffe ermangelt und als moralisch schwachsinnig erachtet werden muß. Aber
wenn keine Thatsachen vorliegen, die ans eine krankhafte Störung der geistigen
Thätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird, hin¬
weisen, so muß die Bestrafung des moralisch Schwachsinnigen ebenso wie die
des Gewohnheitsverbrechers im Interesse der Gesellschaft unbedingt erfolgen,
die Ursachen des widerrechtlichen Willens können, gleichviel ob verschuldet oder


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[0073] Zur Lehre von der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit Bedeutung ist, und umgekehrt, auf eiuer etlva schon erfolgten zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Entscheidung allein nicht zu fußen. Mau wird deshalb den Satz 2 dahin aufstellen können: Der Sachverständige hat hochgradigen Schwachsinn in der Regel dann anzu- nehmen, wenn er die Entmimdignng wegen Blödsinns für möglich erachtet; andern¬ falls kann in der Ziegel nnr mindergradiger Schniachsinn. migenommen lverden. Die landrechtliche Begriffsbestimmung: „Menschen, welchen das Vermögen, die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden blödsinnig ge¬ nannt," dürfte dabei nur mit Vorsicht anzuwenden sein. Denn „die Fähig¬ keit, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, besitzt anch der geistig gesunde Mensch uur in einem gewissen Grade, und zweifellos geisteskranken ist sie ander¬ seits nicht völlig abzusprechen." Schließlich mag noch bemerkt werden, daß moralischer Schwachsinn als solcher niemals die Strafansschließung begründen kann. Man versteht unter moralischem Schwachsinn einen geistigen Zustand, bei dein die logischen Pro¬ zesse ungestört vor sich gehen, die Besonnenheit erhalten ist, Wahnideen und Sinnestäuschungen ganz fehlen, der Mensch aber statt sittlich-rechtlicher Motive nur Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit verwertet, das Strafgesetz nur als eine Art polizeilicher Vorschriften beurteilt, und bei diesem sittlichen und geistigen Mangel mehr oder weniger widerstandslos seinen selbstsüchtigen Antrieben preisgegeben ist. Die Vertreter der entgegen¬ gesetzten Ansicht fußen ans dem Mangel der Widerstandskraft, sie sagen, daß der Betreffende an der That ebenso unschuldig sei, wie bei angebornei» Schwachsinn. Dieser Grund ist aber nicht stichhaltig und trifft bezüg¬ lich eines jeden Verbrechers, namentlich des gewohnheitsmäßigen schlimmen Verbrechers zu. Die Gclvvhuheitsverbrechcr stammen meist ans dem. Pro¬ letariat, haben von frühester Jngend an in Berbrecherkreisen gelebt; wie soll sich dn der Sinn für das Sittliche und die Widerstandskraft gegen das Un¬ sittliche entwickeln? Bei dem Schwachsinn im engern Wortsinne ist der wider¬ rechtliche Wille, gegen den sich die Strafe richtet, ausgeschlossen oder so bedeutend vermindert, daß die Willensfreiheit ausgeschlossen ist, bei dem mora¬ lischen schwächst!,,, ist sowohl der widerrechtliche Wille, wie die Willensfreiheit vorhanden. Wenn z. B. eine Person, um der Bestrafung ihrer Naschhaftigkeit zu entgehen, ihren Mitwisser ermordet, so mag eine solche That unbegreiflich erscheinen, es mag auch zugegeben werden, daß die Person aller sittlichen Be¬ griffe ermangelt und als moralisch schwachsinnig erachtet werden muß. Aber wenn keine Thatsachen vorliegen, die ans eine krankhafte Störung der geistigen Thätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird, hin¬ weisen, so muß die Bestrafung des moralisch Schwachsinnigen ebenso wie die des Gewohnheitsverbrechers im Interesse der Gesellschaft unbedingt erfolgen, die Ursachen des widerrechtlichen Willens können, gleichviel ob verschuldet oder Grenzboten III 1M0 "

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/73>, abgerufen am 13.05.2024.