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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und die öffentliche Meinung

u den vielen in Sachen der Sozialdemokratie umlaufenden Schlag-
Wörtern und Gemeinplätzen hat sich neuerdings ein Wort gesellt,
das für die Denkweise gewisser Kreise charakteristisch genug er¬
scheint, um einer eingehender" Erörterung unterzogen zu werden:
wir meinen das durch die liberale Presse und von ihr aus
durch einen großen Teil der gebildeten Bevölkerung gehende Wort vou den
"bloß taktischen Differenzen" innerhalb der Sozialdemokratie.")

Daß die Sozialdemokratie selbst den in ihrem Lager ausgebrochenen Zwist
zwischen den Alten und den Jungen im eignen Interesse als etwas möglichst
Harmloses und im Grnnde Unbedeutendes hinzustellen sucht, kaun füglich nicht
Wunder nehmen. Erstaunen aber müßte man über die Leichtigkeit, mit der
das von sozialdemokratischer Seite erfundene Wort aufgegriffen und nach¬
gesprochen worden ist, wenn man nicht schon aus frühern Vorgängen wüßte,
wie die Dinge liegen. Das gebildete Publikum, gewohnt deu Vorgängen
innerhalb der Sozialdemokratie eine bloß oberflächliche Beachtung zu schenken,
trotzdem aber oder vielleicht gerade deshalb sehr geneigt, die gesamte Sozial¬
demokratie als eine einheitliche revolutionäre Masse aufzufassen, hat sich wieder
einmal durch eine schön klingende Phrase bestechen lassen und ist damit zu dem
ebenso bequemen wie trostlosen Ergebnis gelaugt, daß doch nichts zu machen
sei, daß für diesmal der Satz nicht gelte, der doch sonst gewöhnlich gilt, daß
von einem Streite zwischen zweien der dritte den Vorteil habe. Glaubt nur
nicht -- so hieß es --, daß dem Streite innerhalb der Sozialdemokratie
irgendwelche ernstere Bedeutung beizumessen sei; es handelt sich ja nur um
unbedeutende Unterschiede in der Taktik, im entscheidenden Augenblick wird uns
die Sozialdemokratie doch einig gegenüberstehen. Durchgängig wurde dann an
diese Betrachtung als einzige Nutzanwendung die unbestimmte Mahnung ge¬
knüpft, sich nicht in falsche Sicherheit wiegen zu lassen und gegenüber der
Umsturzpartei uach wie vor auf der Hut zu sein.



Dieser Aufsatz sieht das gegenwärtige Treiben innerhalb der Sozialdemokratie und
die ganze Weiterentwicklung unsrer politischen Zustände in einem wesentlich andern, günstigern
Lichte, als alle unsre bisherigen Aufsätze über diesen Gegenstand, insbesondre auch als der Aufsatz
an der Spitze dieses Heftes. Wir haben ihn trotzdem oder gerade deshalb gern zum Abdruck
D. Red. gebracht. Wen" er doch Recht behielte!


Die Sozialdemokratie und die öffentliche Meinung

u den vielen in Sachen der Sozialdemokratie umlaufenden Schlag-
Wörtern und Gemeinplätzen hat sich neuerdings ein Wort gesellt,
das für die Denkweise gewisser Kreise charakteristisch genug er¬
scheint, um einer eingehender» Erörterung unterzogen zu werden:
wir meinen das durch die liberale Presse und von ihr aus
durch einen großen Teil der gebildeten Bevölkerung gehende Wort vou den
„bloß taktischen Differenzen" innerhalb der Sozialdemokratie.")

Daß die Sozialdemokratie selbst den in ihrem Lager ausgebrochenen Zwist
zwischen den Alten und den Jungen im eignen Interesse als etwas möglichst
Harmloses und im Grnnde Unbedeutendes hinzustellen sucht, kaun füglich nicht
Wunder nehmen. Erstaunen aber müßte man über die Leichtigkeit, mit der
das von sozialdemokratischer Seite erfundene Wort aufgegriffen und nach¬
gesprochen worden ist, wenn man nicht schon aus frühern Vorgängen wüßte,
wie die Dinge liegen. Das gebildete Publikum, gewohnt deu Vorgängen
innerhalb der Sozialdemokratie eine bloß oberflächliche Beachtung zu schenken,
trotzdem aber oder vielleicht gerade deshalb sehr geneigt, die gesamte Sozial¬
demokratie als eine einheitliche revolutionäre Masse aufzufassen, hat sich wieder
einmal durch eine schön klingende Phrase bestechen lassen und ist damit zu dem
ebenso bequemen wie trostlosen Ergebnis gelaugt, daß doch nichts zu machen
sei, daß für diesmal der Satz nicht gelte, der doch sonst gewöhnlich gilt, daß
von einem Streite zwischen zweien der dritte den Vorteil habe. Glaubt nur
nicht — so hieß es —, daß dem Streite innerhalb der Sozialdemokratie
irgendwelche ernstere Bedeutung beizumessen sei; es handelt sich ja nur um
unbedeutende Unterschiede in der Taktik, im entscheidenden Augenblick wird uns
die Sozialdemokratie doch einig gegenüberstehen. Durchgängig wurde dann an
diese Betrachtung als einzige Nutzanwendung die unbestimmte Mahnung ge¬
knüpft, sich nicht in falsche Sicherheit wiegen zu lassen und gegenüber der
Umsturzpartei uach wie vor auf der Hut zu sein.



Dieser Aufsatz sieht das gegenwärtige Treiben innerhalb der Sozialdemokratie und
die ganze Weiterentwicklung unsrer politischen Zustände in einem wesentlich andern, günstigern
Lichte, als alle unsre bisherigen Aufsätze über diesen Gegenstand, insbesondre auch als der Aufsatz
an der Spitze dieses Heftes. Wir haben ihn trotzdem oder gerade deshalb gern zum Abdruck
D. Red. gebracht. Wen» er doch Recht behielte!
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[0138] [Abbildung] Die Sozialdemokratie und die öffentliche Meinung u den vielen in Sachen der Sozialdemokratie umlaufenden Schlag- Wörtern und Gemeinplätzen hat sich neuerdings ein Wort gesellt, das für die Denkweise gewisser Kreise charakteristisch genug er¬ scheint, um einer eingehender» Erörterung unterzogen zu werden: wir meinen das durch die liberale Presse und von ihr aus durch einen großen Teil der gebildeten Bevölkerung gehende Wort vou den „bloß taktischen Differenzen" innerhalb der Sozialdemokratie.") Daß die Sozialdemokratie selbst den in ihrem Lager ausgebrochenen Zwist zwischen den Alten und den Jungen im eignen Interesse als etwas möglichst Harmloses und im Grnnde Unbedeutendes hinzustellen sucht, kaun füglich nicht Wunder nehmen. Erstaunen aber müßte man über die Leichtigkeit, mit der das von sozialdemokratischer Seite erfundene Wort aufgegriffen und nach¬ gesprochen worden ist, wenn man nicht schon aus frühern Vorgängen wüßte, wie die Dinge liegen. Das gebildete Publikum, gewohnt deu Vorgängen innerhalb der Sozialdemokratie eine bloß oberflächliche Beachtung zu schenken, trotzdem aber oder vielleicht gerade deshalb sehr geneigt, die gesamte Sozial¬ demokratie als eine einheitliche revolutionäre Masse aufzufassen, hat sich wieder einmal durch eine schön klingende Phrase bestechen lassen und ist damit zu dem ebenso bequemen wie trostlosen Ergebnis gelaugt, daß doch nichts zu machen sei, daß für diesmal der Satz nicht gelte, der doch sonst gewöhnlich gilt, daß von einem Streite zwischen zweien der dritte den Vorteil habe. Glaubt nur nicht — so hieß es —, daß dem Streite innerhalb der Sozialdemokratie irgendwelche ernstere Bedeutung beizumessen sei; es handelt sich ja nur um unbedeutende Unterschiede in der Taktik, im entscheidenden Augenblick wird uns die Sozialdemokratie doch einig gegenüberstehen. Durchgängig wurde dann an diese Betrachtung als einzige Nutzanwendung die unbestimmte Mahnung ge¬ knüpft, sich nicht in falsche Sicherheit wiegen zu lassen und gegenüber der Umsturzpartei uach wie vor auf der Hut zu sein. Dieser Aufsatz sieht das gegenwärtige Treiben innerhalb der Sozialdemokratie und die ganze Weiterentwicklung unsrer politischen Zustände in einem wesentlich andern, günstigern Lichte, als alle unsre bisherigen Aufsätze über diesen Gegenstand, insbesondre auch als der Aufsatz an der Spitze dieses Heftes. Wir haben ihn trotzdem oder gerade deshalb gern zum Abdruck D. Red. gebracht. Wen» er doch Recht behielte!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/138>, abgerufen am 28.04.2024.