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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Klassiker des Sozialismus

3

Es könnte sein, daß das gelobte Land überhaupt nicht im Diesseits läge;
daß, wenn es gelänge, die Massennot und das Massenelend zu bannen und
die große Mehrheit der Menschen auf wenige Angenblicke in einen behaglichen
Zustand zu versetzen, die sofort eintretende Verweichlichung sie durch Sünden
und Laster aller Art ins alte Elend zurückstoßen würde. Es könnte auch sein,
daß die planmäßige Produktion und Güterverteilung unter Staatsleitnng, wie
sie Rodbertns in dem vierten sozialen Briefe an Kirchmann darstellt, Übelstünde
erzeugten, schlimmer als die der jetzigen Kapitalsherrschaft. Doch diese Mög¬
lichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten thun den: Werte seiner Nententheorie keinen
Eintrag. Theorien sind ja, wie gesagt, überhaupt nicht dazu da, verwirklicht
zu werden, sondern sie sollen nur dazu dienen, die Fehler eines bestehenden
Zustande? erkennbar und hierdurch ihre Abstellung zum Teil möglich zu macheu.
Wie die Theorie des Nvdbertus nutzbar gemacht werden könnte, soll nu ein
paar Füllen gezeigt werden.

Auf die Gefahr der Auflösung des Volkes in eine kleine Anzahl von
Milliardären und ein nach Millionen zählendes Lumpengesindel wird von Zeit
zu Zeit hingewiesen. Optimisten und -- Jnteressirte suchen uns zwar durch
Ziffertabellen zu beschwichtigen, die den zunehmenden Volkswohlstand und
namentlich die angebliche Kräftigung des Mittelstandes mit rosigem Lichtglanz
übergießen. Aber wer in die Wohnungen der Armen zu blicken Gelegenheit
hat, wer die Köpfe der Armen an seinem Wohnorte zählt, wer den Familien-
tisch des Kleinhandwerkers untersucht, auf den machen diese Beleuchtungskünste
keinen Eindruck. Nodbertus weist nun nach, daß dieser Pauperismus schon
vor seiner natürlichen Ursache, der Übervölkerung, eintreten müsse, wenn durch
den Boden- lind Kapitalbesitz dem Arbeiter ein Teil seines Verdienstes entzogen
wird, daß und warum die dem Arbeiter zufallende Quote des National¬
einkommens stetig kleiner werden müsse, und daß, wenn diesem Prozeß nicht
durch gesetzliche Bvrkehruugeu Einhalt gethan wird, endlich einmal ein Zeit¬
punkt eintreten müsse, wo die Besitzlosen (ein Paar hundert Mark Sparkassen-
kapital sind nicht als Besitz zu rechnen) so zahlreich sein werden, daß sie sich
die Herrschaft der wenigen Nabobs nicht länger gefallen zu lasten brauchen.

Es ist ein Glück, daß Jagetzow nicht in einem der fruchtbareren Kreise
Mittel- oder Niederschlcsiens liegt. In diesem Falle wäre nämlich Rodbertus
wahrscheinlich nicht auf seine Rcnteutheorie verfallen. Hier hätte er vorzugs¬
weise Bauern vor Augen gehabt, die Besitzer und Arbeiter in einer Person
sind, sodaß Rente und Arbeitslohn in dieselbe Tasche fließen. In der Gegend
Pommerns, wo er schrieb, herrscht der Großgrundbesitz vor, und die Scheidung
des Arbeitserzengnisses in Reute und Arbeitslohn tritt da so deutlich an den
Tag, wie in einer Steinkohlengrube, deren geschwärzte Arbeiter dem Besitzer
sein ländliches Schloß und seinen Palast in der Residenz schaffen. Hätte aber


Der deutsche Klassiker des Sozialismus

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Es könnte sein, daß das gelobte Land überhaupt nicht im Diesseits läge;
daß, wenn es gelänge, die Massennot und das Massenelend zu bannen und
die große Mehrheit der Menschen auf wenige Angenblicke in einen behaglichen
Zustand zu versetzen, die sofort eintretende Verweichlichung sie durch Sünden
und Laster aller Art ins alte Elend zurückstoßen würde. Es könnte auch sein,
daß die planmäßige Produktion und Güterverteilung unter Staatsleitnng, wie
sie Rodbertns in dem vierten sozialen Briefe an Kirchmann darstellt, Übelstünde
erzeugten, schlimmer als die der jetzigen Kapitalsherrschaft. Doch diese Mög¬
lichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten thun den: Werte seiner Nententheorie keinen
Eintrag. Theorien sind ja, wie gesagt, überhaupt nicht dazu da, verwirklicht
zu werden, sondern sie sollen nur dazu dienen, die Fehler eines bestehenden
Zustande? erkennbar und hierdurch ihre Abstellung zum Teil möglich zu macheu.
Wie die Theorie des Nvdbertus nutzbar gemacht werden könnte, soll nu ein
paar Füllen gezeigt werden.

Auf die Gefahr der Auflösung des Volkes in eine kleine Anzahl von
Milliardären und ein nach Millionen zählendes Lumpengesindel wird von Zeit
zu Zeit hingewiesen. Optimisten und — Jnteressirte suchen uns zwar durch
Ziffertabellen zu beschwichtigen, die den zunehmenden Volkswohlstand und
namentlich die angebliche Kräftigung des Mittelstandes mit rosigem Lichtglanz
übergießen. Aber wer in die Wohnungen der Armen zu blicken Gelegenheit
hat, wer die Köpfe der Armen an seinem Wohnorte zählt, wer den Familien-
tisch des Kleinhandwerkers untersucht, auf den machen diese Beleuchtungskünste
keinen Eindruck. Nodbertus weist nun nach, daß dieser Pauperismus schon
vor seiner natürlichen Ursache, der Übervölkerung, eintreten müsse, wenn durch
den Boden- lind Kapitalbesitz dem Arbeiter ein Teil seines Verdienstes entzogen
wird, daß und warum die dem Arbeiter zufallende Quote des National¬
einkommens stetig kleiner werden müsse, und daß, wenn diesem Prozeß nicht
durch gesetzliche Bvrkehruugeu Einhalt gethan wird, endlich einmal ein Zeit¬
punkt eintreten müsse, wo die Besitzlosen (ein Paar hundert Mark Sparkassen-
kapital sind nicht als Besitz zu rechnen) so zahlreich sein werden, daß sie sich
die Herrschaft der wenigen Nabobs nicht länger gefallen zu lasten brauchen.

Es ist ein Glück, daß Jagetzow nicht in einem der fruchtbareren Kreise
Mittel- oder Niederschlcsiens liegt. In diesem Falle wäre nämlich Rodbertus
wahrscheinlich nicht auf seine Rcnteutheorie verfallen. Hier hätte er vorzugs¬
weise Bauern vor Augen gehabt, die Besitzer und Arbeiter in einer Person
sind, sodaß Rente und Arbeitslohn in dieselbe Tasche fließen. In der Gegend
Pommerns, wo er schrieb, herrscht der Großgrundbesitz vor, und die Scheidung
des Arbeitserzengnisses in Reute und Arbeitslohn tritt da so deutlich an den
Tag, wie in einer Steinkohlengrube, deren geschwärzte Arbeiter dem Besitzer
sein ländliches Schloß und seinen Palast in der Residenz schaffen. Hätte aber


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[0275] Der deutsche Klassiker des Sozialismus 3 Es könnte sein, daß das gelobte Land überhaupt nicht im Diesseits läge; daß, wenn es gelänge, die Massennot und das Massenelend zu bannen und die große Mehrheit der Menschen auf wenige Angenblicke in einen behaglichen Zustand zu versetzen, die sofort eintretende Verweichlichung sie durch Sünden und Laster aller Art ins alte Elend zurückstoßen würde. Es könnte auch sein, daß die planmäßige Produktion und Güterverteilung unter Staatsleitnng, wie sie Rodbertns in dem vierten sozialen Briefe an Kirchmann darstellt, Übelstünde erzeugten, schlimmer als die der jetzigen Kapitalsherrschaft. Doch diese Mög¬ lichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten thun den: Werte seiner Nententheorie keinen Eintrag. Theorien sind ja, wie gesagt, überhaupt nicht dazu da, verwirklicht zu werden, sondern sie sollen nur dazu dienen, die Fehler eines bestehenden Zustande? erkennbar und hierdurch ihre Abstellung zum Teil möglich zu macheu. Wie die Theorie des Nvdbertus nutzbar gemacht werden könnte, soll nu ein paar Füllen gezeigt werden. Auf die Gefahr der Auflösung des Volkes in eine kleine Anzahl von Milliardären und ein nach Millionen zählendes Lumpengesindel wird von Zeit zu Zeit hingewiesen. Optimisten und — Jnteressirte suchen uns zwar durch Ziffertabellen zu beschwichtigen, die den zunehmenden Volkswohlstand und namentlich die angebliche Kräftigung des Mittelstandes mit rosigem Lichtglanz übergießen. Aber wer in die Wohnungen der Armen zu blicken Gelegenheit hat, wer die Köpfe der Armen an seinem Wohnorte zählt, wer den Familien- tisch des Kleinhandwerkers untersucht, auf den machen diese Beleuchtungskünste keinen Eindruck. Nodbertus weist nun nach, daß dieser Pauperismus schon vor seiner natürlichen Ursache, der Übervölkerung, eintreten müsse, wenn durch den Boden- lind Kapitalbesitz dem Arbeiter ein Teil seines Verdienstes entzogen wird, daß und warum die dem Arbeiter zufallende Quote des National¬ einkommens stetig kleiner werden müsse, und daß, wenn diesem Prozeß nicht durch gesetzliche Bvrkehruugeu Einhalt gethan wird, endlich einmal ein Zeit¬ punkt eintreten müsse, wo die Besitzlosen (ein Paar hundert Mark Sparkassen- kapital sind nicht als Besitz zu rechnen) so zahlreich sein werden, daß sie sich die Herrschaft der wenigen Nabobs nicht länger gefallen zu lasten brauchen. Es ist ein Glück, daß Jagetzow nicht in einem der fruchtbareren Kreise Mittel- oder Niederschlcsiens liegt. In diesem Falle wäre nämlich Rodbertus wahrscheinlich nicht auf seine Rcnteutheorie verfallen. Hier hätte er vorzugs¬ weise Bauern vor Augen gehabt, die Besitzer und Arbeiter in einer Person sind, sodaß Rente und Arbeitslohn in dieselbe Tasche fließen. In der Gegend Pommerns, wo er schrieb, herrscht der Großgrundbesitz vor, und die Scheidung des Arbeitserzengnisses in Reute und Arbeitslohn tritt da so deutlich an den Tag, wie in einer Steinkohlengrube, deren geschwärzte Arbeiter dem Besitzer sein ländliches Schloß und seinen Palast in der Residenz schaffen. Hätte aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/275>, abgerufen am 28.04.2024.