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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung

vativen Parteien des Reichstages nicht i" die ^age kommen werden, so zu
sagen, daß das vielmehr die Neichsregierung besorgen werde. Nach Kanossa
gehen wir nicht, hat der Begründer des Reiches gesagt. Ein Gang nach
Kanossa ist es nicht, wenn die Regierung einen Schritt zurückthut, der von
Anfang an besser unterblieben wäre; aber mehr als ein solcher Gang, mehr
als eine bloße Demütigung, ein Verrat an den heiligsten Interessen des Reiches
wäre es, wenn Deutschland sich in der Jesuitenfrage den Geboten Roms
unterwürfe; wir hoffen, daß dies nicht geschehen wird, daß auch nach dem
Rücktritt des Fürsten Vismarck die Geschäfte des Reiches doch immer noch
mit Weisheit geführt werden.




Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen
Verfassung

eit der Aufrichtung des neuen deutschen Reiches nnter Kaiser
Wilhelm I. hat sich die deutsche Geschichtschreibung emsiger
denn je zuvor mit den Einheitsbestrebungen und dem Zustande¬
kommen der ersten deutschen Verfassung befaßt, und es ist be¬
zeichnend, daß ein reicher Kaufmann einen großen Preis für
eine gemeinverständliche, zusammenfassende Darstellung der Einheitsgedanken und
ihrer Durchführung ausgesetzt hat. Wir Bürger des neuen Reiches machen uns,
nachdem durch Blut und Eisen die Einheit unter dem hohenzvlleruschen
Kaisertum hergestellt ist, oft eine falsche Vorstellung von den Schwierigkeiten,
mit denen nach der napoleonischen Zeit die deutsche Bundeseinheit versucht und
geschaffen wurde, jenes unheilbare Zwitterdiug, das nicht allein durch den
Dualismus von Preußen und Österreich seinen Todeskeim in sich trug. Als
im Jahre 187!> der erste Band von Treitschkes "Deutscher Geschichte im neun¬
zehnten Jahrhundert" erschien, bekam man hier in lebendiger, oft rednerischer
Darstellung einen Überblick über den Entwicklungsgang, deu die deutsche Ver-
fassungsfrage genommen hat. Unterdessen sind mehrere Werke erschienen, die
den mitunter einseitigen Urteilen Treitschkes, der sich doch manchmal von
Zuneigung oder Abneigung hinreißen ließ, entgegentraten oder sie wenigstens
berichtigten; es sei hier nnr an einen Aufsatz Gustav Rümelius über König
Wilhelm von Württemberg und die Schloßbergersche Arbeit über denselben
Fürsten erinnert. Der preußische Patriotismus hat Treitschke zu harten


Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung

vativen Parteien des Reichstages nicht i» die ^age kommen werden, so zu
sagen, daß das vielmehr die Neichsregierung besorgen werde. Nach Kanossa
gehen wir nicht, hat der Begründer des Reiches gesagt. Ein Gang nach
Kanossa ist es nicht, wenn die Regierung einen Schritt zurückthut, der von
Anfang an besser unterblieben wäre; aber mehr als ein solcher Gang, mehr
als eine bloße Demütigung, ein Verrat an den heiligsten Interessen des Reiches
wäre es, wenn Deutschland sich in der Jesuitenfrage den Geboten Roms
unterwürfe; wir hoffen, daß dies nicht geschehen wird, daß auch nach dem
Rücktritt des Fürsten Vismarck die Geschäfte des Reiches doch immer noch
mit Weisheit geführt werden.




Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen
Verfassung

eit der Aufrichtung des neuen deutschen Reiches nnter Kaiser
Wilhelm I. hat sich die deutsche Geschichtschreibung emsiger
denn je zuvor mit den Einheitsbestrebungen und dem Zustande¬
kommen der ersten deutschen Verfassung befaßt, und es ist be¬
zeichnend, daß ein reicher Kaufmann einen großen Preis für
eine gemeinverständliche, zusammenfassende Darstellung der Einheitsgedanken und
ihrer Durchführung ausgesetzt hat. Wir Bürger des neuen Reiches machen uns,
nachdem durch Blut und Eisen die Einheit unter dem hohenzvlleruschen
Kaisertum hergestellt ist, oft eine falsche Vorstellung von den Schwierigkeiten,
mit denen nach der napoleonischen Zeit die deutsche Bundeseinheit versucht und
geschaffen wurde, jenes unheilbare Zwitterdiug, das nicht allein durch den
Dualismus von Preußen und Österreich seinen Todeskeim in sich trug. Als
im Jahre 187!> der erste Band von Treitschkes „Deutscher Geschichte im neun¬
zehnten Jahrhundert" erschien, bekam man hier in lebendiger, oft rednerischer
Darstellung einen Überblick über den Entwicklungsgang, deu die deutsche Ver-
fassungsfrage genommen hat. Unterdessen sind mehrere Werke erschienen, die
den mitunter einseitigen Urteilen Treitschkes, der sich doch manchmal von
Zuneigung oder Abneigung hinreißen ließ, entgegentraten oder sie wenigstens
berichtigten; es sei hier nnr an einen Aufsatz Gustav Rümelius über König
Wilhelm von Württemberg und die Schloßbergersche Arbeit über denselben
Fürsten erinnert. Der preußische Patriotismus hat Treitschke zu harten


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[0558] Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung vativen Parteien des Reichstages nicht i» die ^age kommen werden, so zu sagen, daß das vielmehr die Neichsregierung besorgen werde. Nach Kanossa gehen wir nicht, hat der Begründer des Reiches gesagt. Ein Gang nach Kanossa ist es nicht, wenn die Regierung einen Schritt zurückthut, der von Anfang an besser unterblieben wäre; aber mehr als ein solcher Gang, mehr als eine bloße Demütigung, ein Verrat an den heiligsten Interessen des Reiches wäre es, wenn Deutschland sich in der Jesuitenfrage den Geboten Roms unterwürfe; wir hoffen, daß dies nicht geschehen wird, daß auch nach dem Rücktritt des Fürsten Vismarck die Geschäfte des Reiches doch immer noch mit Weisheit geführt werden. Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung eit der Aufrichtung des neuen deutschen Reiches nnter Kaiser Wilhelm I. hat sich die deutsche Geschichtschreibung emsiger denn je zuvor mit den Einheitsbestrebungen und dem Zustande¬ kommen der ersten deutschen Verfassung befaßt, und es ist be¬ zeichnend, daß ein reicher Kaufmann einen großen Preis für eine gemeinverständliche, zusammenfassende Darstellung der Einheitsgedanken und ihrer Durchführung ausgesetzt hat. Wir Bürger des neuen Reiches machen uns, nachdem durch Blut und Eisen die Einheit unter dem hohenzvlleruschen Kaisertum hergestellt ist, oft eine falsche Vorstellung von den Schwierigkeiten, mit denen nach der napoleonischen Zeit die deutsche Bundeseinheit versucht und geschaffen wurde, jenes unheilbare Zwitterdiug, das nicht allein durch den Dualismus von Preußen und Österreich seinen Todeskeim in sich trug. Als im Jahre 187!> der erste Band von Treitschkes „Deutscher Geschichte im neun¬ zehnten Jahrhundert" erschien, bekam man hier in lebendiger, oft rednerischer Darstellung einen Überblick über den Entwicklungsgang, deu die deutsche Ver- fassungsfrage genommen hat. Unterdessen sind mehrere Werke erschienen, die den mitunter einseitigen Urteilen Treitschkes, der sich doch manchmal von Zuneigung oder Abneigung hinreißen ließ, entgegentraten oder sie wenigstens berichtigten; es sei hier nnr an einen Aufsatz Gustav Rümelius über König Wilhelm von Württemberg und die Schloßbergersche Arbeit über denselben Fürsten erinnert. Der preußische Patriotismus hat Treitschke zu harten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/558>, abgerufen am 28.04.2024.