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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung

Urteilen veranlaßt, wo neu aufgefundene Akten und Dokumente ein ganz andres
Licht ans die Persönlichkeiten jener Zeit werfen, oder er hat einzelne geschichtliche
Erscheinungen zu Trägern von Ideen gemacht, denen das unbefangene Urteil
manches Lorbeerblatt wieder abnehmen muß. Eine solche Nachprüfung hat der
im Frühling 1887 verstorbene Jenaer Historiker W, A. Schmidt in seinem
von Professor Alfred Stern in Zürich herausgegebene" Werke: Geschichte
der deutschen Berfassnngsfrage während der Befreiungskriege und des
Wiener Kongresses 1812 bis 1815 (Stuttgart, Göschen) unternommen. Schmidt
scheint sich gleich im Anfange der siebziger Jahre mit dieser Arbeit, die ihn
bis zu seinem Tode beschäftigt hat, getragen zu haben; und er als ehemaliges
Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, als Verfasser mehrerer Werke
über Preußens deutsche Politik und die preußisch-deutscheu Einheitsbestrebungen
seit der Zeit Friedrichs des Großen dürfte sich wohl berufen fühlen, in das
äußerst verwickelte Thema Klarheit zu bringen. Die Abwehr oder Verichtignng
einer ganzen Reihe von Urteilen und Sätzen Treitschkes, aber auch von Pertz,
Sybel und Meder mögen dein Buche eine besondre Bedeutung geben; uns
scheint höher als die polemische Seite die Beibringung und Berwertung neuen
Qnellenmaterials und nngedruckter Dokumente zu stehen. Es wird kaum mehr
ein Aktenstück von Bedeutung aus den Archiven beizubringen sein, das nicht
schon in einem der vielen neuen des Schmidtschen Werkes enthalten wäre oder
seine Beziehung fände. Indem Schmidts Sammelfleiß und Sammelglllck in
seinem Werke alle zur Frage gehörigen Denkschriften, Memoiren und Entwürfe
vereinigt, wodurch es allerdings etwas umfangreich wird, nimmt er nicht bloß
entschieden Stellung zu einschneidenden Streitfragen, sondern giebt auch dem
Leser selbst Gelegenheit zur Entscheidung, und auch ein Verehrer der
Treitsch dischen Geschichtschreibung wird nicht hinwegleugnen können, daß
Schmidt an der Hand der Dokumente in den meisten Punkten Treitschke gegen¬
über Recht hat. Nur ist hier eben auch wieder das alte Problem aller Geschicht¬
schreibung zu bedenken - ob der Historiker nnr gewissenhafter, nüchterner Forscher
aus dem Gegebenen heraus sein darf, sodaß sein Ich gar nicht mitzusprechen
hätte, oder ob er unter dem Drang eigner Parteinahme ein Zeitbild ge¬
stalten darf.

Höher, wie gesagt, als die Auseinandersetzungen mit Treitschke und
andern Geschichtschreibern scheint uns das Buch als abgeschlossenes Wert
zu stehen. Es ist ja interessant, wenn wir im Freiherrn von Stein nicht mehr
den begeisterten Vertreter des deutschen Einheitsstaates, nicht mehr den
preußischen Patrioten sehen, sondern den Vertreter der Herstellung des alten
Kaisertums, wie es im zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert
bestanden hat. Es ist schmerzlich, selbst aus deu unerbittlichen Dokumenten
lesen zu müssen, wie ein Mann wie Stein immer und immer wieder die Vor¬
herrschaft Österreichs Preußen gegenüber betrieben hat, wie unheilvoll sein Ein-


Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung

Urteilen veranlaßt, wo neu aufgefundene Akten und Dokumente ein ganz andres
Licht ans die Persönlichkeiten jener Zeit werfen, oder er hat einzelne geschichtliche
Erscheinungen zu Trägern von Ideen gemacht, denen das unbefangene Urteil
manches Lorbeerblatt wieder abnehmen muß. Eine solche Nachprüfung hat der
im Frühling 1887 verstorbene Jenaer Historiker W, A. Schmidt in seinem
von Professor Alfred Stern in Zürich herausgegebene» Werke: Geschichte
der deutschen Berfassnngsfrage während der Befreiungskriege und des
Wiener Kongresses 1812 bis 1815 (Stuttgart, Göschen) unternommen. Schmidt
scheint sich gleich im Anfange der siebziger Jahre mit dieser Arbeit, die ihn
bis zu seinem Tode beschäftigt hat, getragen zu haben; und er als ehemaliges
Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, als Verfasser mehrerer Werke
über Preußens deutsche Politik und die preußisch-deutscheu Einheitsbestrebungen
seit der Zeit Friedrichs des Großen dürfte sich wohl berufen fühlen, in das
äußerst verwickelte Thema Klarheit zu bringen. Die Abwehr oder Verichtignng
einer ganzen Reihe von Urteilen und Sätzen Treitschkes, aber auch von Pertz,
Sybel und Meder mögen dein Buche eine besondre Bedeutung geben; uns
scheint höher als die polemische Seite die Beibringung und Berwertung neuen
Qnellenmaterials und nngedruckter Dokumente zu stehen. Es wird kaum mehr
ein Aktenstück von Bedeutung aus den Archiven beizubringen sein, das nicht
schon in einem der vielen neuen des Schmidtschen Werkes enthalten wäre oder
seine Beziehung fände. Indem Schmidts Sammelfleiß und Sammelglllck in
seinem Werke alle zur Frage gehörigen Denkschriften, Memoiren und Entwürfe
vereinigt, wodurch es allerdings etwas umfangreich wird, nimmt er nicht bloß
entschieden Stellung zu einschneidenden Streitfragen, sondern giebt auch dem
Leser selbst Gelegenheit zur Entscheidung, und auch ein Verehrer der
Treitsch dischen Geschichtschreibung wird nicht hinwegleugnen können, daß
Schmidt an der Hand der Dokumente in den meisten Punkten Treitschke gegen¬
über Recht hat. Nur ist hier eben auch wieder das alte Problem aller Geschicht¬
schreibung zu bedenken - ob der Historiker nnr gewissenhafter, nüchterner Forscher
aus dem Gegebenen heraus sein darf, sodaß sein Ich gar nicht mitzusprechen
hätte, oder ob er unter dem Drang eigner Parteinahme ein Zeitbild ge¬
stalten darf.

Höher, wie gesagt, als die Auseinandersetzungen mit Treitschke und
andern Geschichtschreibern scheint uns das Buch als abgeschlossenes Wert
zu stehen. Es ist ja interessant, wenn wir im Freiherrn von Stein nicht mehr
den begeisterten Vertreter des deutschen Einheitsstaates, nicht mehr den
preußischen Patrioten sehen, sondern den Vertreter der Herstellung des alten
Kaisertums, wie es im zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert
bestanden hat. Es ist schmerzlich, selbst aus deu unerbittlichen Dokumenten
lesen zu müssen, wie ein Mann wie Stein immer und immer wieder die Vor¬
herrschaft Österreichs Preußen gegenüber betrieben hat, wie unheilvoll sein Ein-


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[0559] Zur Entstehungsgeschichte der ersten deutschen Verfassung Urteilen veranlaßt, wo neu aufgefundene Akten und Dokumente ein ganz andres Licht ans die Persönlichkeiten jener Zeit werfen, oder er hat einzelne geschichtliche Erscheinungen zu Trägern von Ideen gemacht, denen das unbefangene Urteil manches Lorbeerblatt wieder abnehmen muß. Eine solche Nachprüfung hat der im Frühling 1887 verstorbene Jenaer Historiker W, A. Schmidt in seinem von Professor Alfred Stern in Zürich herausgegebene» Werke: Geschichte der deutschen Berfassnngsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses 1812 bis 1815 (Stuttgart, Göschen) unternommen. Schmidt scheint sich gleich im Anfange der siebziger Jahre mit dieser Arbeit, die ihn bis zu seinem Tode beschäftigt hat, getragen zu haben; und er als ehemaliges Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, als Verfasser mehrerer Werke über Preußens deutsche Politik und die preußisch-deutscheu Einheitsbestrebungen seit der Zeit Friedrichs des Großen dürfte sich wohl berufen fühlen, in das äußerst verwickelte Thema Klarheit zu bringen. Die Abwehr oder Verichtignng einer ganzen Reihe von Urteilen und Sätzen Treitschkes, aber auch von Pertz, Sybel und Meder mögen dein Buche eine besondre Bedeutung geben; uns scheint höher als die polemische Seite die Beibringung und Berwertung neuen Qnellenmaterials und nngedruckter Dokumente zu stehen. Es wird kaum mehr ein Aktenstück von Bedeutung aus den Archiven beizubringen sein, das nicht schon in einem der vielen neuen des Schmidtschen Werkes enthalten wäre oder seine Beziehung fände. Indem Schmidts Sammelfleiß und Sammelglllck in seinem Werke alle zur Frage gehörigen Denkschriften, Memoiren und Entwürfe vereinigt, wodurch es allerdings etwas umfangreich wird, nimmt er nicht bloß entschieden Stellung zu einschneidenden Streitfragen, sondern giebt auch dem Leser selbst Gelegenheit zur Entscheidung, und auch ein Verehrer der Treitsch dischen Geschichtschreibung wird nicht hinwegleugnen können, daß Schmidt an der Hand der Dokumente in den meisten Punkten Treitschke gegen¬ über Recht hat. Nur ist hier eben auch wieder das alte Problem aller Geschicht¬ schreibung zu bedenken - ob der Historiker nnr gewissenhafter, nüchterner Forscher aus dem Gegebenen heraus sein darf, sodaß sein Ich gar nicht mitzusprechen hätte, oder ob er unter dem Drang eigner Parteinahme ein Zeitbild ge¬ stalten darf. Höher, wie gesagt, als die Auseinandersetzungen mit Treitschke und andern Geschichtschreibern scheint uns das Buch als abgeschlossenes Wert zu stehen. Es ist ja interessant, wenn wir im Freiherrn von Stein nicht mehr den begeisterten Vertreter des deutschen Einheitsstaates, nicht mehr den preußischen Patrioten sehen, sondern den Vertreter der Herstellung des alten Kaisertums, wie es im zehnten, elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert bestanden hat. Es ist schmerzlich, selbst aus deu unerbittlichen Dokumenten lesen zu müssen, wie ein Mann wie Stein immer und immer wieder die Vor¬ herrschaft Österreichs Preußen gegenüber betrieben hat, wie unheilvoll sein Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/559>, abgerufen am 13.05.2024.