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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

". as Urteil des Fürsten Bismarck in auswärtiger Politik ist von
solchem Gewicht, daß jedes Mißverständnis seiner Worte auf
Seiten des Volks und jeder Irrtum auf Seiten des Fürsten
möglichst beseitigt oder vermieden werden sollten. Was nun der
Fürst in den politische" Unterhaltungen der letzten Zeit über
Rußland gesagt hat, sollte, wie uns dünkt, nicht ohne Einschränkungen hin¬
genommen werden, weil es, wenn nicht ein irrtümliches, so doch, wie aus der
wanglosen Art der Unterhaltung erklärlich wird, unvollständiges Urteil bildet.
Der Fürst macht für die uns feindselige Stimmung in Nußland die Polen,
die Juden und d:e Nihilisten verantwortlich. Das trifft jedoch den Kern der
Sache nicht. Es ist wahr: Polen und Juden hassen Rußland; Polen, Juden
und Nihilisten sähen mit Freuden einen Krieg Rußlands gegen Deutschland
ausbrechen. Allein es ist ein Irrtum, zu glauben, daß diese drei Gruppen
die feindliche Stimmung gegen Deutschland im russischen Volke geweckt hätten,
und wer annehmen wollte, daß es ohne diese drei Gruppen heute keine solche
Feindseligkeit gäbe, würde gleichfalls irren. Sie ist nicht willkürlich von deu
drei Gruppen gemacht und konnte von ihnen nicht gemacht werden, weil sie
zwar bedeutend genug find, die vorhandne Feindseligkeit zu verschärfen, aber
nicht den Einfluß haben, noch jemals gehabt haben, das nationale Empfinden
Rußlands umzustimmen, zu leiten und Feindschaft zu schaffen, wo sie nicht
war. Freilich, der Bauer, die großen Millionen, die haben um andre Dinge
zu denken, als an Deutschenhaß, sofern sie überhaupt denken. Aber alles,
was über dem schriftlosen Bauer steht, treibt in Rußland Politik, und was
Politik treibt, ist mit sehr wenig Ausnahmen von stärkerer oder schwächerer
Feindseligkeit gegen Deutsche und Deutschland erfüllt. Dafür giebt es man¬
cherlei Ursachen außer den Juden, Polen und Nihilisten, und eine wesentliche


Grenzboten 1 1893 I


Deutschland und Rußland

„. as Urteil des Fürsten Bismarck in auswärtiger Politik ist von
solchem Gewicht, daß jedes Mißverständnis seiner Worte auf
Seiten des Volks und jeder Irrtum auf Seiten des Fürsten
möglichst beseitigt oder vermieden werden sollten. Was nun der
Fürst in den politische» Unterhaltungen der letzten Zeit über
Rußland gesagt hat, sollte, wie uns dünkt, nicht ohne Einschränkungen hin¬
genommen werden, weil es, wenn nicht ein irrtümliches, so doch, wie aus der
wanglosen Art der Unterhaltung erklärlich wird, unvollständiges Urteil bildet.
Der Fürst macht für die uns feindselige Stimmung in Nußland die Polen,
die Juden und d:e Nihilisten verantwortlich. Das trifft jedoch den Kern der
Sache nicht. Es ist wahr: Polen und Juden hassen Rußland; Polen, Juden
und Nihilisten sähen mit Freuden einen Krieg Rußlands gegen Deutschland
ausbrechen. Allein es ist ein Irrtum, zu glauben, daß diese drei Gruppen
die feindliche Stimmung gegen Deutschland im russischen Volke geweckt hätten,
und wer annehmen wollte, daß es ohne diese drei Gruppen heute keine solche
Feindseligkeit gäbe, würde gleichfalls irren. Sie ist nicht willkürlich von deu
drei Gruppen gemacht und konnte von ihnen nicht gemacht werden, weil sie
zwar bedeutend genug find, die vorhandne Feindseligkeit zu verschärfen, aber
nicht den Einfluß haben, noch jemals gehabt haben, das nationale Empfinden
Rußlands umzustimmen, zu leiten und Feindschaft zu schaffen, wo sie nicht
war. Freilich, der Bauer, die großen Millionen, die haben um andre Dinge
zu denken, als an Deutschenhaß, sofern sie überhaupt denken. Aber alles,
was über dem schriftlosen Bauer steht, treibt in Rußland Politik, und was
Politik treibt, ist mit sehr wenig Ausnahmen von stärkerer oder schwächerer
Feindseligkeit gegen Deutsche und Deutschland erfüllt. Dafür giebt es man¬
cherlei Ursachen außer den Juden, Polen und Nihilisten, und eine wesentliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/11>, abgerufen am 28.04.2024.