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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

bildet in gewisser Weise die Kehrseite von den "Liebenswürdigkeiten" nach außen
hin, mit denen sich nach des Fürsten Ausdruck Rußland über innere Schwie¬
rigkeiten hinwegzuhelfen liebt. Es ist bekannt, wie sehr der Slawe zum Po-
litisiren neigt; mag er auch, wie Fürst Bismarck bemerkt, kein Talent zur
Politik haben: Neigung, ja Leidenschaft für das Politisiren hat er sicher, man
kann das nicht bloß in Rußland, sondern in allen andern slawischen Ländern
beobachten. Jeder Slawe, der lesen und schreiben kann, spricht mit Vorliebe
von Politik und vertritt seiue politischen Meinungen mit Eifer. Das Feld
der innern Politik ist nun in Rußland recht langweilig und dazu unter
strengem. Verschluß der Regierung, was eine weitere Ursache ihrer öden Un¬
fruchtbarkeit ist. Der Russe wendet also sein politisches Interesse vorwiegend
den unterhaltender" und handlichem Dingen der äußern Politik zu. Und
dies um so eifriger, als er hierin von der Regierung nicht bloß freien
Spielraum erhält, souderu mit vollem Bewußtsein unterstützt wird. Das
ist nichts neues, sondern alter Brauch in Rußland; das Bedürfnis des
Volks uach politischer Bethätigung oder theoretischer Beschäftigung wird von
den innern Dingen ferngehalten und auf die äußern abgelenkt. Da, wo sie
nichts zu sagen habe", möge" sie schwatzen und eifern; dafür mögen sie aber
schweigen, wo sie der Regierung unbequem werde" könnten. Dieser Art von
Unliebenswürdigkeit bedient sich die russische Regierung eben so gern wie jener
Liebenswürdigkeiten gegenüber Österreich, Italien oder Frankreich, und sie hat
sich ihrer seit geraumer Zeit Deutschland und den Deutschen gegenüber be¬
dient, da sie darin einer in einem Teile des Volks von Alters her vorhandnen
Neigung oder richtiger Abneigung begegnete, nämlich der altrussischen und
orthodox-russischen Abneigung gegen den Stamm, der seit Jahrhunderten als
der Vertreter des sich aufdrängenden, überlegnen Frcmdentnms und der "un-
christlichen" westlichen Kirche" dem Russen erschiene" ist, gegen den deutsche".
Diese Abneigung war vorhanden, ehe die Juden in Rußland verfolgt wurden,
ehe die Nihilisten geboren wurden, ehe die Polen in die Ämter eindrangen;
sie war vorhanden, lange ehe der neue Kurs die Drähte nach Petersburg
hin zerriß, lange ehe der Berliner Friede geschlossen wurde und ehe die dy¬
nastische Freundschaft in dem Krimkriege, dem polnischen Aufstande von 1864,
den Kriegen von 18">t>, 1870, 1877 erneuert wurde. Dieser Abneigung ans
Seiten eines wesentliche" Teils der leitenden Klassen, "änlich der Kirche und
der Gruppe der sogenannten Altrnssen, hielt zwar die dynastische Zuneigung
lange Zeit das Gegengewicht. Etwa bis zum Berliner Kongreß, für dessen
für Rußland kränkendes Ergebnis die deutsche Staatskunst grundlos verant¬
wortlich gemacht wurde. Aber der Entrüstung des Volks über dieses Er¬
gebnis ließ die russische Regierung mit Absicht freien Lauf. Mochte die Volks-
stimmung ihren Unmut auf den deutschen Nachbar absetzen, so wurden die
von der russische" Staatsleituug begangnen Fehler vor dem eignen Volle


Deutschland und Rußland

bildet in gewisser Weise die Kehrseite von den „Liebenswürdigkeiten" nach außen
hin, mit denen sich nach des Fürsten Ausdruck Rußland über innere Schwie¬
rigkeiten hinwegzuhelfen liebt. Es ist bekannt, wie sehr der Slawe zum Po-
litisiren neigt; mag er auch, wie Fürst Bismarck bemerkt, kein Talent zur
Politik haben: Neigung, ja Leidenschaft für das Politisiren hat er sicher, man
kann das nicht bloß in Rußland, sondern in allen andern slawischen Ländern
beobachten. Jeder Slawe, der lesen und schreiben kann, spricht mit Vorliebe
von Politik und vertritt seiue politischen Meinungen mit Eifer. Das Feld
der innern Politik ist nun in Rußland recht langweilig und dazu unter
strengem. Verschluß der Regierung, was eine weitere Ursache ihrer öden Un¬
fruchtbarkeit ist. Der Russe wendet also sein politisches Interesse vorwiegend
den unterhaltender» und handlichem Dingen der äußern Politik zu. Und
dies um so eifriger, als er hierin von der Regierung nicht bloß freien
Spielraum erhält, souderu mit vollem Bewußtsein unterstützt wird. Das
ist nichts neues, sondern alter Brauch in Rußland; das Bedürfnis des
Volks uach politischer Bethätigung oder theoretischer Beschäftigung wird von
den innern Dingen ferngehalten und auf die äußern abgelenkt. Da, wo sie
nichts zu sagen habe», möge» sie schwatzen und eifern; dafür mögen sie aber
schweigen, wo sie der Regierung unbequem werde» könnten. Dieser Art von
Unliebenswürdigkeit bedient sich die russische Regierung eben so gern wie jener
Liebenswürdigkeiten gegenüber Österreich, Italien oder Frankreich, und sie hat
sich ihrer seit geraumer Zeit Deutschland und den Deutschen gegenüber be¬
dient, da sie darin einer in einem Teile des Volks von Alters her vorhandnen
Neigung oder richtiger Abneigung begegnete, nämlich der altrussischen und
orthodox-russischen Abneigung gegen den Stamm, der seit Jahrhunderten als
der Vertreter des sich aufdrängenden, überlegnen Frcmdentnms und der „un-
christlichen" westlichen Kirche» dem Russen erschiene» ist, gegen den deutsche».
Diese Abneigung war vorhanden, ehe die Juden in Rußland verfolgt wurden,
ehe die Nihilisten geboren wurden, ehe die Polen in die Ämter eindrangen;
sie war vorhanden, lange ehe der neue Kurs die Drähte nach Petersburg
hin zerriß, lange ehe der Berliner Friede geschlossen wurde und ehe die dy¬
nastische Freundschaft in dem Krimkriege, dem polnischen Aufstande von 1864,
den Kriegen von 18«>t>, 1870, 1877 erneuert wurde. Dieser Abneigung ans
Seiten eines wesentliche» Teils der leitenden Klassen, »änlich der Kirche und
der Gruppe der sogenannten Altrnssen, hielt zwar die dynastische Zuneigung
lange Zeit das Gegengewicht. Etwa bis zum Berliner Kongreß, für dessen
für Rußland kränkendes Ergebnis die deutsche Staatskunst grundlos verant¬
wortlich gemacht wurde. Aber der Entrüstung des Volks über dieses Er¬
gebnis ließ die russische Regierung mit Absicht freien Lauf. Mochte die Volks-
stimmung ihren Unmut auf den deutschen Nachbar absetzen, so wurden die
von der russische» Staatsleituug begangnen Fehler vor dem eignen Volle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/12>, abgerufen am 13.05.2024.