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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschlands wirtschaftliche Lage
O. Bähr von

er alt genug ist, die heutigen Verhältnisse in Deutschland
mit den Verhältnissen zu vergleichen, wie sie noch vor einem
Menschenalter oder gcir vor zwei Menschenaltern bestanden, der
kann nicht im geringsten zweifeln, daß heute im Vergleich mit
jenen Zeiten ein weit größerer Wohlstand in Deutschland herrscht,
daß das Wohlleben der Menschen, und zwar durch alle Klassen der Be¬
völkerung hindurch, in hohem Maße gewachsen ist. Heute sind wir bereits
auf dem Standpunkt angelangt, daß viele diesen Wohlstand als etwas ganz
selbstverständliches betrachten, was gar nicht anders sein könnte. Wer nicht
in vollem Maße daran teil nimmt, der glaubt, sich in einer Notlage zu be¬
finden. Die Landwirtschaft klagt schon lange über ihre Not. Die Industrie
und der Handel klagen darüber, daß seit einigen Jahren "die Geschäfte dar¬
niederliegen"; und das sieht man für ein besondres Mißgeschick an. Eine höchst
erfreuliche Thatsache, die i" frühern Zeiten als der größte Segen gepriesen
worden wäre, die Thatsache, daß wir im vergangnen Jahre eine reiche Ernte
gehabt haben, wird dabei kaum beachtet oder gar von den Landwirten beklagt,
weil dadurch die Getreidepreise henmtergegaugen seien. Im Reichstage ist
kürzlich, allerdings von sozialdemokratischer Seite, eine Schilderung der deutschen
Zustände gegeben worden, als ob unser Volk sich in der größten Not befände.
Bei dieser Sachlage lohnt es sich wohl, einmal zu prüfen, was denn eigent¬
lich die Grundlage unsers heutigen Wohlstandes bildet, und in welchem Maße
wir auf seine Dauer unbedingt rechnen können.*)



Unsre Leser wissen, daß wir den Ausführungen unsers verehrten Freundes nicht
allenthalben beipflichten können, zum Teil sogar entschieden andrer Meinung sind. Neben
dem außerordentlich gehobnen Wohlstande, der allerdings Teilen aller Klassen zu gute kommt,
habe" sich much erschreckende Mißstände entwickelt, die früher nicht vorhanden waren und
insbesondre große .Kreise der untersten Volksschichten bedrücken. Auf diese Verhältnisse und
ihre Gefahren hinzuweisen, vor denen die Wohlhabenden gern die Auge" verschließen, betrachten
wir als eine besondre Aufgabe dieser Blätter. Unsre Artitclreihe "Weder Kommunismus noch
Kapitalismus" dient vor allem dieser Ausgabe. Die Forderungen, zu denen der vorliegende
Aussatz gelaugt, und ihre Begründung unterschreiben wir natürlich mit voller Überzeugung;
D. N. sie gehen die an, die sie zu erfüllen imstande sind.
Grenzboten I l,893 34


Deutschlands wirtschaftliche Lage
O. Bähr von

er alt genug ist, die heutigen Verhältnisse in Deutschland
mit den Verhältnissen zu vergleichen, wie sie noch vor einem
Menschenalter oder gcir vor zwei Menschenaltern bestanden, der
kann nicht im geringsten zweifeln, daß heute im Vergleich mit
jenen Zeiten ein weit größerer Wohlstand in Deutschland herrscht,
daß das Wohlleben der Menschen, und zwar durch alle Klassen der Be¬
völkerung hindurch, in hohem Maße gewachsen ist. Heute sind wir bereits
auf dem Standpunkt angelangt, daß viele diesen Wohlstand als etwas ganz
selbstverständliches betrachten, was gar nicht anders sein könnte. Wer nicht
in vollem Maße daran teil nimmt, der glaubt, sich in einer Notlage zu be¬
finden. Die Landwirtschaft klagt schon lange über ihre Not. Die Industrie
und der Handel klagen darüber, daß seit einigen Jahren „die Geschäfte dar¬
niederliegen"; und das sieht man für ein besondres Mißgeschick an. Eine höchst
erfreuliche Thatsache, die i» frühern Zeiten als der größte Segen gepriesen
worden wäre, die Thatsache, daß wir im vergangnen Jahre eine reiche Ernte
gehabt haben, wird dabei kaum beachtet oder gar von den Landwirten beklagt,
weil dadurch die Getreidepreise henmtergegaugen seien. Im Reichstage ist
kürzlich, allerdings von sozialdemokratischer Seite, eine Schilderung der deutschen
Zustände gegeben worden, als ob unser Volk sich in der größten Not befände.
Bei dieser Sachlage lohnt es sich wohl, einmal zu prüfen, was denn eigent¬
lich die Grundlage unsers heutigen Wohlstandes bildet, und in welchem Maße
wir auf seine Dauer unbedingt rechnen können.*)



Unsre Leser wissen, daß wir den Ausführungen unsers verehrten Freundes nicht
allenthalben beipflichten können, zum Teil sogar entschieden andrer Meinung sind. Neben
dem außerordentlich gehobnen Wohlstande, der allerdings Teilen aller Klassen zu gute kommt,
habe» sich much erschreckende Mißstände entwickelt, die früher nicht vorhanden waren und
insbesondre große .Kreise der untersten Volksschichten bedrücken. Auf diese Verhältnisse und
ihre Gefahren hinzuweisen, vor denen die Wohlhabenden gern die Auge» verschließen, betrachten
wir als eine besondre Aufgabe dieser Blätter. Unsre Artitclreihe „Weder Kommunismus noch
Kapitalismus" dient vor allem dieser Ausgabe. Die Forderungen, zu denen der vorliegende
Aussatz gelaugt, und ihre Begründung unterschreiben wir natürlich mit voller Überzeugung;
D. N. sie gehen die an, die sie zu erfüllen imstande sind.
Grenzboten I l,893 34
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[0275] [Abbildung] Deutschlands wirtschaftliche Lage O. Bähr von er alt genug ist, die heutigen Verhältnisse in Deutschland mit den Verhältnissen zu vergleichen, wie sie noch vor einem Menschenalter oder gcir vor zwei Menschenaltern bestanden, der kann nicht im geringsten zweifeln, daß heute im Vergleich mit jenen Zeiten ein weit größerer Wohlstand in Deutschland herrscht, daß das Wohlleben der Menschen, und zwar durch alle Klassen der Be¬ völkerung hindurch, in hohem Maße gewachsen ist. Heute sind wir bereits auf dem Standpunkt angelangt, daß viele diesen Wohlstand als etwas ganz selbstverständliches betrachten, was gar nicht anders sein könnte. Wer nicht in vollem Maße daran teil nimmt, der glaubt, sich in einer Notlage zu be¬ finden. Die Landwirtschaft klagt schon lange über ihre Not. Die Industrie und der Handel klagen darüber, daß seit einigen Jahren „die Geschäfte dar¬ niederliegen"; und das sieht man für ein besondres Mißgeschick an. Eine höchst erfreuliche Thatsache, die i» frühern Zeiten als der größte Segen gepriesen worden wäre, die Thatsache, daß wir im vergangnen Jahre eine reiche Ernte gehabt haben, wird dabei kaum beachtet oder gar von den Landwirten beklagt, weil dadurch die Getreidepreise henmtergegaugen seien. Im Reichstage ist kürzlich, allerdings von sozialdemokratischer Seite, eine Schilderung der deutschen Zustände gegeben worden, als ob unser Volk sich in der größten Not befände. Bei dieser Sachlage lohnt es sich wohl, einmal zu prüfen, was denn eigent¬ lich die Grundlage unsers heutigen Wohlstandes bildet, und in welchem Maße wir auf seine Dauer unbedingt rechnen können.*) Unsre Leser wissen, daß wir den Ausführungen unsers verehrten Freundes nicht allenthalben beipflichten können, zum Teil sogar entschieden andrer Meinung sind. Neben dem außerordentlich gehobnen Wohlstande, der allerdings Teilen aller Klassen zu gute kommt, habe» sich much erschreckende Mißstände entwickelt, die früher nicht vorhanden waren und insbesondre große .Kreise der untersten Volksschichten bedrücken. Auf diese Verhältnisse und ihre Gefahren hinzuweisen, vor denen die Wohlhabenden gern die Auge» verschließen, betrachten wir als eine besondre Aufgabe dieser Blätter. Unsre Artitclreihe „Weder Kommunismus noch Kapitalismus" dient vor allem dieser Ausgabe. Die Forderungen, zu denen der vorliegende Aussatz gelaugt, und ihre Begründung unterschreiben wir natürlich mit voller Überzeugung; D. N. sie gehen die an, die sie zu erfüllen imstande sind. Grenzboten I l,893 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/275>, abgerufen am 27.04.2024.