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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Das Fräulein

tismus und von Österreich außerdem noch durch den Katholizismus getrennt
ist (1840), und daß Rußland nicht eher wirklich europäisch werden kann, "be¬
vor nicht die Kirche daselbst mit den unsrigen in eine lebendige Gemeinschaft
getreten ist" (1829).

Daß ein Mann von solchen Anschauungen eine tief religiöse Natur sein
mußte, versteht sich von selbst. Nach der Rückkehr aus dem Kriege hatte sich
Gerlach besonders unter dem Einflüsse seines jüngern Bruders Otto einem
streng positiven Christentum von pietistischer Färbung zugewandt. Christentum
und Pietismus fallen ihm beinahe zusammen; wer gegen diesen ist, ist auch
gegen jenes. Eifrig verfolgt er die Erscheinungen des kirchlichen Lebens, auch
z. B. in Rußland, führt gern Gespräche über Gegenstände dieser Art, liest
täglich in der Bibel und sucht sich in den Wirren des Jahres 1850 Trost
in Hengsteubergs Kommentar zur Apokalypse. Mit der "auswendigen Union"
der preußischen Landeskirche ist er daher gar nicht einverstanden, und er tadelt
es scharf an der Regierung Friedrich Wilhelms III., daß während dieser Zeit
die Kirche alle Selbständigkeit verloren habe, daß man mit Strafen gegen die
separirt lutherischen Pastoren vvrgegciugen sei und den Hegelianismus an den
Universitäten und Schulen begünstigt habe.

(Fortsetzung folgt)




Das Fräulein
G. von Beaulieu von

ir müssen eine Person ins Haus nehmen, Mündel, sagte Frau
Rose Sobernstüdt zu ihrem Gatten. Ich kann mich nicht immer¬
fort um die Kinder kümmern und auch nicht mit ihnen spazieren
gehen. Und wenn Tante Eusebia kommt, braucht sie öfter des
Nachts Bedienung, du weißt -- bei ihrem Asthma.

Du hast ja ein Kindermädchen, Herzchen, wandte Fritz
Sobernstädt schüchtern ein.

Höre mich nur zu Ende, Mündel. Die Anna will ich eben entlassen,
weil Tante Eusebia ihr Zimmer bekommen soll. Die Kinder nehmen wir zu
uns, und die Neue müßte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, neben
Tautens Stube, damit sie es hört, wenn die alte Frau des Nachts klingelt.

Das könnte aber doch die Anna auch.

Wo denkst du hiu, Fritzel! Einem Dienstmädchen kann ich nicht zumuten,

aus dem Sofa zu schlafen und des Nachts öfter aufzustehen; dazu muß ich
ein Früuleiu annehmen, eine gebildete Person.

Lieber Himmel, die wohl gar bei Tische mitißt?

Wenn wir allein sind, ja. Einen Vorteil muß doch die Person von ihrer


Das Fräulein

tismus und von Österreich außerdem noch durch den Katholizismus getrennt
ist (1840), und daß Rußland nicht eher wirklich europäisch werden kann, „be¬
vor nicht die Kirche daselbst mit den unsrigen in eine lebendige Gemeinschaft
getreten ist" (1829).

Daß ein Mann von solchen Anschauungen eine tief religiöse Natur sein
mußte, versteht sich von selbst. Nach der Rückkehr aus dem Kriege hatte sich
Gerlach besonders unter dem Einflüsse seines jüngern Bruders Otto einem
streng positiven Christentum von pietistischer Färbung zugewandt. Christentum
und Pietismus fallen ihm beinahe zusammen; wer gegen diesen ist, ist auch
gegen jenes. Eifrig verfolgt er die Erscheinungen des kirchlichen Lebens, auch
z. B. in Rußland, führt gern Gespräche über Gegenstände dieser Art, liest
täglich in der Bibel und sucht sich in den Wirren des Jahres 1850 Trost
in Hengsteubergs Kommentar zur Apokalypse. Mit der „auswendigen Union"
der preußischen Landeskirche ist er daher gar nicht einverstanden, und er tadelt
es scharf an der Regierung Friedrich Wilhelms III., daß während dieser Zeit
die Kirche alle Selbständigkeit verloren habe, daß man mit Strafen gegen die
separirt lutherischen Pastoren vvrgegciugen sei und den Hegelianismus an den
Universitäten und Schulen begünstigt habe.

(Fortsetzung folgt)




Das Fräulein
G. von Beaulieu von

ir müssen eine Person ins Haus nehmen, Mündel, sagte Frau
Rose Sobernstüdt zu ihrem Gatten. Ich kann mich nicht immer¬
fort um die Kinder kümmern und auch nicht mit ihnen spazieren
gehen. Und wenn Tante Eusebia kommt, braucht sie öfter des
Nachts Bedienung, du weißt — bei ihrem Asthma.

Du hast ja ein Kindermädchen, Herzchen, wandte Fritz
Sobernstädt schüchtern ein.

Höre mich nur zu Ende, Mündel. Die Anna will ich eben entlassen,
weil Tante Eusebia ihr Zimmer bekommen soll. Die Kinder nehmen wir zu
uns, und die Neue müßte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, neben
Tautens Stube, damit sie es hört, wenn die alte Frau des Nachts klingelt.

Das könnte aber doch die Anna auch.

Wo denkst du hiu, Fritzel! Einem Dienstmädchen kann ich nicht zumuten,

aus dem Sofa zu schlafen und des Nachts öfter aufzustehen; dazu muß ich
ein Früuleiu annehmen, eine gebildete Person.

Lieber Himmel, die wohl gar bei Tische mitißt?

Wenn wir allein sind, ja. Einen Vorteil muß doch die Person von ihrer


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[0548] Das Fräulein tismus und von Österreich außerdem noch durch den Katholizismus getrennt ist (1840), und daß Rußland nicht eher wirklich europäisch werden kann, „be¬ vor nicht die Kirche daselbst mit den unsrigen in eine lebendige Gemeinschaft getreten ist" (1829). Daß ein Mann von solchen Anschauungen eine tief religiöse Natur sein mußte, versteht sich von selbst. Nach der Rückkehr aus dem Kriege hatte sich Gerlach besonders unter dem Einflüsse seines jüngern Bruders Otto einem streng positiven Christentum von pietistischer Färbung zugewandt. Christentum und Pietismus fallen ihm beinahe zusammen; wer gegen diesen ist, ist auch gegen jenes. Eifrig verfolgt er die Erscheinungen des kirchlichen Lebens, auch z. B. in Rußland, führt gern Gespräche über Gegenstände dieser Art, liest täglich in der Bibel und sucht sich in den Wirren des Jahres 1850 Trost in Hengsteubergs Kommentar zur Apokalypse. Mit der „auswendigen Union" der preußischen Landeskirche ist er daher gar nicht einverstanden, und er tadelt es scharf an der Regierung Friedrich Wilhelms III., daß während dieser Zeit die Kirche alle Selbständigkeit verloren habe, daß man mit Strafen gegen die separirt lutherischen Pastoren vvrgegciugen sei und den Hegelianismus an den Universitäten und Schulen begünstigt habe. (Fortsetzung folgt) Das Fräulein G. von Beaulieu von ir müssen eine Person ins Haus nehmen, Mündel, sagte Frau Rose Sobernstüdt zu ihrem Gatten. Ich kann mich nicht immer¬ fort um die Kinder kümmern und auch nicht mit ihnen spazieren gehen. Und wenn Tante Eusebia kommt, braucht sie öfter des Nachts Bedienung, du weißt — bei ihrem Asthma. Du hast ja ein Kindermädchen, Herzchen, wandte Fritz Sobernstädt schüchtern ein. Höre mich nur zu Ende, Mündel. Die Anna will ich eben entlassen, weil Tante Eusebia ihr Zimmer bekommen soll. Die Kinder nehmen wir zu uns, und die Neue müßte auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, neben Tautens Stube, damit sie es hört, wenn die alte Frau des Nachts klingelt. Das könnte aber doch die Anna auch. Wo denkst du hiu, Fritzel! Einem Dienstmädchen kann ich nicht zumuten, aus dem Sofa zu schlafen und des Nachts öfter aufzustehen; dazu muß ich ein Früuleiu annehmen, eine gebildete Person. Lieber Himmel, die wohl gar bei Tische mitißt? Wenn wir allein sind, ja. Einen Vorteil muß doch die Person von ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/548>, abgerufen am 28.04.2024.