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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die rechtliche Stellung des Arztes

fortgesetzt wird, um sie körperlich und geistig vollkommen gesund und rüstig
zu machen; denn in unsrer Zeit vermag ein mittelloser Mensch im Kampf
ums Dasein nur dann zu bestehen, wenn er mit einem starken gesunden Körper,
gutem Verstände, Willenskraft, Lebensmut und Tüchtigkeit in allerlei Kennt¬
nissen und Fertigkeiten ausgerüstet ist. Und an diesem Zustande unsrer Ge¬
sellschaft werden vorläufig alle Reformversuche scheitern. Die Reformfreunde
werden sich mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung der Ver¬
brecher, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht? Nimmt
doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen bisher ehr¬
lich gebliebner Menschen das Brot weg! Wo der Grund und Boden den
Wellen abgerungen werden muß, da mag es heißen: wer nicht will beleben,
der muß weichen; wo der Urwald zu roder ist, da mag man sagen: den Faulen
schlagen wir tot als unnützen Esser oder treiben ihn mit der Peitsche zur Ar¬
beit. Aber wo die eine Art von Gütern, wie Zucker und Kleidungsstücke, in
solchem Übermaß hervorgebracht wird, daß ihr Absatz auch durch die künst¬
lichsten Mittel nicht mehr erzwungen werden kann, die andre Art dagegen, zu
der gesunde Proletarierwohuungen gehören, der eigentümlichen Gesellschafts¬
verfassung wegen gar nicht hervorgebracht werden kann, da heißt einen frischen
tüchtigen Arbeiter einstellen so viel wie einen schwächern wegstoßen, und einen
Verbrecher in einen nützlichen Menschen verwandeln so viel, wie einen andern
nützlichen Menschen in einen Verbrecher oder Vagabunden verwandeln oder
zum Selbstmord treiben. Alle Arbeit an der Besserung der Verbrecher, der
Rettung verwahrloster Kinder u. s. w. gleicht vorläufig dem Verfahren der
Schildbürger, die zur Unterbringung der für den Rathausbau ausgeschachteten
Erde eine zweite Grube ausschachteten, für den dadurch entstandnen Erdhaufen
eine dritte und so sort in inüllituw.




Die rechtliche Stellung des Arztes

n die Erörterung des Zwistes zwischen Behring und Virchow,
die kürzlich in diesen Blättern stand, sind von dem Verfasser
auch Ausführungen allgemeiner Natur geknüpft worden, die das
Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Kranken und die Stellung
betreffen, die der ärztliche Stand gegenwärtig im bürgerlichen
Leben einnimmt. Namentlich wurde gesagt, es sei den Kranken, die ihren
eignen Leib zu einer neuen BeHandlungsweise hergeben sollten, nicht zu ver¬
denken, wenn sie vorher über das Wie und Warum des Verfahrens einiger-


Die rechtliche Stellung des Arztes

fortgesetzt wird, um sie körperlich und geistig vollkommen gesund und rüstig
zu machen; denn in unsrer Zeit vermag ein mittelloser Mensch im Kampf
ums Dasein nur dann zu bestehen, wenn er mit einem starken gesunden Körper,
gutem Verstände, Willenskraft, Lebensmut und Tüchtigkeit in allerlei Kennt¬
nissen und Fertigkeiten ausgerüstet ist. Und an diesem Zustande unsrer Ge¬
sellschaft werden vorläufig alle Reformversuche scheitern. Die Reformfreunde
werden sich mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung der Ver¬
brecher, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht? Nimmt
doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen bisher ehr¬
lich gebliebner Menschen das Brot weg! Wo der Grund und Boden den
Wellen abgerungen werden muß, da mag es heißen: wer nicht will beleben,
der muß weichen; wo der Urwald zu roder ist, da mag man sagen: den Faulen
schlagen wir tot als unnützen Esser oder treiben ihn mit der Peitsche zur Ar¬
beit. Aber wo die eine Art von Gütern, wie Zucker und Kleidungsstücke, in
solchem Übermaß hervorgebracht wird, daß ihr Absatz auch durch die künst¬
lichsten Mittel nicht mehr erzwungen werden kann, die andre Art dagegen, zu
der gesunde Proletarierwohuungen gehören, der eigentümlichen Gesellschafts¬
verfassung wegen gar nicht hervorgebracht werden kann, da heißt einen frischen
tüchtigen Arbeiter einstellen so viel wie einen schwächern wegstoßen, und einen
Verbrecher in einen nützlichen Menschen verwandeln so viel, wie einen andern
nützlichen Menschen in einen Verbrecher oder Vagabunden verwandeln oder
zum Selbstmord treiben. Alle Arbeit an der Besserung der Verbrecher, der
Rettung verwahrloster Kinder u. s. w. gleicht vorläufig dem Verfahren der
Schildbürger, die zur Unterbringung der für den Rathausbau ausgeschachteten
Erde eine zweite Grube ausschachteten, für den dadurch entstandnen Erdhaufen
eine dritte und so sort in inüllituw.




Die rechtliche Stellung des Arztes

n die Erörterung des Zwistes zwischen Behring und Virchow,
die kürzlich in diesen Blättern stand, sind von dem Verfasser
auch Ausführungen allgemeiner Natur geknüpft worden, die das
Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Kranken und die Stellung
betreffen, die der ärztliche Stand gegenwärtig im bürgerlichen
Leben einnimmt. Namentlich wurde gesagt, es sei den Kranken, die ihren
eignen Leib zu einer neuen BeHandlungsweise hergeben sollten, nicht zu ver¬
denken, wenn sie vorher über das Wie und Warum des Verfahrens einiger-


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[0270] Die rechtliche Stellung des Arztes fortgesetzt wird, um sie körperlich und geistig vollkommen gesund und rüstig zu machen; denn in unsrer Zeit vermag ein mittelloser Mensch im Kampf ums Dasein nur dann zu bestehen, wenn er mit einem starken gesunden Körper, gutem Verstände, Willenskraft, Lebensmut und Tüchtigkeit in allerlei Kennt¬ nissen und Fertigkeiten ausgerüstet ist. Und an diesem Zustande unsrer Ge¬ sellschaft werden vorläufig alle Reformversuche scheitern. Die Reformfreunde werden sich mit Ellis sagen: Was nützt die Besserung oder Heilung der Ver¬ brecher, wenn der Gesellschaftszustand täglich neue Verbrecher macht? Nimmt doch jeder als tüchtig entlassene Sträfling einem weniger tüchtigen bisher ehr¬ lich gebliebner Menschen das Brot weg! Wo der Grund und Boden den Wellen abgerungen werden muß, da mag es heißen: wer nicht will beleben, der muß weichen; wo der Urwald zu roder ist, da mag man sagen: den Faulen schlagen wir tot als unnützen Esser oder treiben ihn mit der Peitsche zur Ar¬ beit. Aber wo die eine Art von Gütern, wie Zucker und Kleidungsstücke, in solchem Übermaß hervorgebracht wird, daß ihr Absatz auch durch die künst¬ lichsten Mittel nicht mehr erzwungen werden kann, die andre Art dagegen, zu der gesunde Proletarierwohuungen gehören, der eigentümlichen Gesellschafts¬ verfassung wegen gar nicht hervorgebracht werden kann, da heißt einen frischen tüchtigen Arbeiter einstellen so viel wie einen schwächern wegstoßen, und einen Verbrecher in einen nützlichen Menschen verwandeln so viel, wie einen andern nützlichen Menschen in einen Verbrecher oder Vagabunden verwandeln oder zum Selbstmord treiben. Alle Arbeit an der Besserung der Verbrecher, der Rettung verwahrloster Kinder u. s. w. gleicht vorläufig dem Verfahren der Schildbürger, die zur Unterbringung der für den Rathausbau ausgeschachteten Erde eine zweite Grube ausschachteten, für den dadurch entstandnen Erdhaufen eine dritte und so sort in inüllituw. Die rechtliche Stellung des Arztes n die Erörterung des Zwistes zwischen Behring und Virchow, die kürzlich in diesen Blättern stand, sind von dem Verfasser auch Ausführungen allgemeiner Natur geknüpft worden, die das Verhältnis zwischen dem Arzt und dem Kranken und die Stellung betreffen, die der ärztliche Stand gegenwärtig im bürgerlichen Leben einnimmt. Namentlich wurde gesagt, es sei den Kranken, die ihren eignen Leib zu einer neuen BeHandlungsweise hergeben sollten, nicht zu ver¬ denken, wenn sie vorher über das Wie und Warum des Verfahrens einiger-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/270>, abgerufen am 28.04.2024.