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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Uatur und Behandlung des Verbrechers

Verhaftete" in eine Leibes- und Seelenverfassung zu versetz",, worin er wahr¬
scheinlich kein Verbrechen mehr begeht. Das kann man Erziehung nennen,
noch besser Pflege und Fürsorge. Dazu gehören: Belehrung, geeignete Be¬
schäftigung, passende Unterhaltung, gute Beispiele, Kräftigung und Übung des
Körpers. Da in einer Atmosphäre, die jeden Gesunden krank machen würde,
ein Kranker unmöglich gesund werden kann, so verlangt Ellis, daß der Ver¬
haftete sein Leben nicht unter lauter Verbrechern zubringe, sondern möglichst
viel mit normalen Menschen verkehre. Die Haft darf deshalb nichts gefängnis¬
artiges haben, und die Arbeit im Freien oder in Werkstätten muß möglichst
im Verein mit freien Arbeitern verrichtet werden. Als Musteranstalt führt er
das schon erwähnte Elmira im Staate Newyork vor. Mit einer Anzahl von
Zöglingen dieser Anstalt hat man noch ein ganz besonders merkwürdiges Ex¬
periment angestellt. Man hat sie behandelt, wie etwa körperlich und geistig
zurückgebliebne oder verkümmerte Kinder wohlhabender Eltern in Heilanstalten
behandelt werde". Man hat durch wohlberechneten Wechsel von Unterricht,
Arbeit und Erholung, von geistiger und körperlicher Beschäftigung, durch reich¬
liche Verwendung von Musik, Turnen, Bädern -- namentlich Dampfbädern --,
Massage "aus Ochsen Meuscheu gemacht," eine Umwandlung bewirkt, die bei
allen auf den ersten Blick sichtbar war, und die im Leben vorhielt, denn nur
ein ganz kleiner Prozentsatz der so behandelten ist rückfällig geworden. Krimi¬
nalisten alten Schlages werden nicht wissen, ob sie über eine solche "Narr-
heit" mehr lachen oder mehr sich ereifern sollen. Sie werden aber damit nur
beweisen, daß es ihnen mit der "Besserung" des Verbrechers, die doch auch
sie im Auge zu haben behaupten, gar nicht Ernst ist; denn da die Menschen¬
natur überall dieselbe ist, so versteht es sich ganz von selbst, daß untüchtige
Menschen überall nur auf dieselbe Weise tüchtig gemacht werden können. Wie
von Strafe, so kann in der Neformjnstiz auch von einem Strafmaß uicht mehr
die Rede sein, sondern der Pflegling bleibt so lange in der Pflege, als er ihrer
bedarf. Wenn sich dieses System inmitten unsrer Gesellschaft nicht durchführe"
ließe, so würde als leidlich vernünftige Auskunft nur die Deportation übrig
bleiben, wozu Dr. Brück in seiner Schrift Fort mit den Zuchthäusern!
rät, die wir bei dieser Gelegenheit nochmals empfehlen.

Der Leiter einer großen Jdiotenanstalt sagte uns kürzlich: "Wir bringen
manche von diesen unglücklichen Wesen so weit, daß sie durch ihre Arbeit die
Kosten ihres Unterhalts aufbringen, aber .nur, so lange sie in der Anstalt
bleiben; in andrer Umgebung, wo die sür sie notwendige verständnisvolle indi¬
viduelle Behandlung fehlt, brechen sie sofort zusammen." Ganz dasselbe gilt
von der Mehrzahl der Personen, die unter den: Name" von Verbrechern ein¬
gesperrt werden, mit dem Unterschiede jedoch, daß viele von diesen so weit ge¬
bracht werden können, daß sie nach ihrer Entlassung auf eignen Füßen zu
stehen vermögen. Natürlich ist das nur möglich, wenn die Kur lange genng


Uatur und Behandlung des Verbrechers

Verhaftete» in eine Leibes- und Seelenverfassung zu versetz«,, worin er wahr¬
scheinlich kein Verbrechen mehr begeht. Das kann man Erziehung nennen,
noch besser Pflege und Fürsorge. Dazu gehören: Belehrung, geeignete Be¬
schäftigung, passende Unterhaltung, gute Beispiele, Kräftigung und Übung des
Körpers. Da in einer Atmosphäre, die jeden Gesunden krank machen würde,
ein Kranker unmöglich gesund werden kann, so verlangt Ellis, daß der Ver¬
haftete sein Leben nicht unter lauter Verbrechern zubringe, sondern möglichst
viel mit normalen Menschen verkehre. Die Haft darf deshalb nichts gefängnis¬
artiges haben, und die Arbeit im Freien oder in Werkstätten muß möglichst
im Verein mit freien Arbeitern verrichtet werden. Als Musteranstalt führt er
das schon erwähnte Elmira im Staate Newyork vor. Mit einer Anzahl von
Zöglingen dieser Anstalt hat man noch ein ganz besonders merkwürdiges Ex¬
periment angestellt. Man hat sie behandelt, wie etwa körperlich und geistig
zurückgebliebne oder verkümmerte Kinder wohlhabender Eltern in Heilanstalten
behandelt werde». Man hat durch wohlberechneten Wechsel von Unterricht,
Arbeit und Erholung, von geistiger und körperlicher Beschäftigung, durch reich¬
liche Verwendung von Musik, Turnen, Bädern — namentlich Dampfbädern —,
Massage „aus Ochsen Meuscheu gemacht," eine Umwandlung bewirkt, die bei
allen auf den ersten Blick sichtbar war, und die im Leben vorhielt, denn nur
ein ganz kleiner Prozentsatz der so behandelten ist rückfällig geworden. Krimi¬
nalisten alten Schlages werden nicht wissen, ob sie über eine solche „Narr-
heit" mehr lachen oder mehr sich ereifern sollen. Sie werden aber damit nur
beweisen, daß es ihnen mit der „Besserung" des Verbrechers, die doch auch
sie im Auge zu haben behaupten, gar nicht Ernst ist; denn da die Menschen¬
natur überall dieselbe ist, so versteht es sich ganz von selbst, daß untüchtige
Menschen überall nur auf dieselbe Weise tüchtig gemacht werden können. Wie
von Strafe, so kann in der Neformjnstiz auch von einem Strafmaß uicht mehr
die Rede sein, sondern der Pflegling bleibt so lange in der Pflege, als er ihrer
bedarf. Wenn sich dieses System inmitten unsrer Gesellschaft nicht durchführe»
ließe, so würde als leidlich vernünftige Auskunft nur die Deportation übrig
bleiben, wozu Dr. Brück in seiner Schrift Fort mit den Zuchthäusern!
rät, die wir bei dieser Gelegenheit nochmals empfehlen.

Der Leiter einer großen Jdiotenanstalt sagte uns kürzlich: „Wir bringen
manche von diesen unglücklichen Wesen so weit, daß sie durch ihre Arbeit die
Kosten ihres Unterhalts aufbringen, aber .nur, so lange sie in der Anstalt
bleiben; in andrer Umgebung, wo die sür sie notwendige verständnisvolle indi¬
viduelle Behandlung fehlt, brechen sie sofort zusammen." Ganz dasselbe gilt
von der Mehrzahl der Personen, die unter den: Name» von Verbrechern ein¬
gesperrt werden, mit dem Unterschiede jedoch, daß viele von diesen so weit ge¬
bracht werden können, daß sie nach ihrer Entlassung auf eignen Füßen zu
stehen vermögen. Natürlich ist das nur möglich, wenn die Kur lange genng


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[0269] Uatur und Behandlung des Verbrechers Verhaftete» in eine Leibes- und Seelenverfassung zu versetz«,, worin er wahr¬ scheinlich kein Verbrechen mehr begeht. Das kann man Erziehung nennen, noch besser Pflege und Fürsorge. Dazu gehören: Belehrung, geeignete Be¬ schäftigung, passende Unterhaltung, gute Beispiele, Kräftigung und Übung des Körpers. Da in einer Atmosphäre, die jeden Gesunden krank machen würde, ein Kranker unmöglich gesund werden kann, so verlangt Ellis, daß der Ver¬ haftete sein Leben nicht unter lauter Verbrechern zubringe, sondern möglichst viel mit normalen Menschen verkehre. Die Haft darf deshalb nichts gefängnis¬ artiges haben, und die Arbeit im Freien oder in Werkstätten muß möglichst im Verein mit freien Arbeitern verrichtet werden. Als Musteranstalt führt er das schon erwähnte Elmira im Staate Newyork vor. Mit einer Anzahl von Zöglingen dieser Anstalt hat man noch ein ganz besonders merkwürdiges Ex¬ periment angestellt. Man hat sie behandelt, wie etwa körperlich und geistig zurückgebliebne oder verkümmerte Kinder wohlhabender Eltern in Heilanstalten behandelt werde». Man hat durch wohlberechneten Wechsel von Unterricht, Arbeit und Erholung, von geistiger und körperlicher Beschäftigung, durch reich¬ liche Verwendung von Musik, Turnen, Bädern — namentlich Dampfbädern —, Massage „aus Ochsen Meuscheu gemacht," eine Umwandlung bewirkt, die bei allen auf den ersten Blick sichtbar war, und die im Leben vorhielt, denn nur ein ganz kleiner Prozentsatz der so behandelten ist rückfällig geworden. Krimi¬ nalisten alten Schlages werden nicht wissen, ob sie über eine solche „Narr- heit" mehr lachen oder mehr sich ereifern sollen. Sie werden aber damit nur beweisen, daß es ihnen mit der „Besserung" des Verbrechers, die doch auch sie im Auge zu haben behaupten, gar nicht Ernst ist; denn da die Menschen¬ natur überall dieselbe ist, so versteht es sich ganz von selbst, daß untüchtige Menschen überall nur auf dieselbe Weise tüchtig gemacht werden können. Wie von Strafe, so kann in der Neformjnstiz auch von einem Strafmaß uicht mehr die Rede sein, sondern der Pflegling bleibt so lange in der Pflege, als er ihrer bedarf. Wenn sich dieses System inmitten unsrer Gesellschaft nicht durchführe» ließe, so würde als leidlich vernünftige Auskunft nur die Deportation übrig bleiben, wozu Dr. Brück in seiner Schrift Fort mit den Zuchthäusern! rät, die wir bei dieser Gelegenheit nochmals empfehlen. Der Leiter einer großen Jdiotenanstalt sagte uns kürzlich: „Wir bringen manche von diesen unglücklichen Wesen so weit, daß sie durch ihre Arbeit die Kosten ihres Unterhalts aufbringen, aber .nur, so lange sie in der Anstalt bleiben; in andrer Umgebung, wo die sür sie notwendige verständnisvolle indi¬ viduelle Behandlung fehlt, brechen sie sofort zusammen." Ganz dasselbe gilt von der Mehrzahl der Personen, die unter den: Name» von Verbrechern ein¬ gesperrt werden, mit dem Unterschiede jedoch, daß viele von diesen so weit ge¬ bracht werden können, daß sie nach ihrer Entlassung auf eignen Füßen zu stehen vermögen. Natürlich ist das nur möglich, wenn die Kur lange genng

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/269>, abgerufen am 12.05.2024.