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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Endlich kein der Arzt, ein verhältnismäßig noch junger Manu. Ohne
viele Umstände zu machen, wandte er sich der Leidenden zu.

Wer hat die vorläufige Einrichtung besorgt? fragte er ziemlich kurz.
Dann entfernte er, ohne auf die Antwort zu achten und ein Urteil daran zu
knüpfen, die Umhüllungen, untersuchte den Arm, stellte kurze Fragen und gab
abgerissene Weisungen. Das junge Fräulein von Mechtshausen kam ihnen
Pünktlich nach, und so war in kurzer Zeit der Arm kunstgerecht eingerichtet.

Nun erst sah sich der Arzt seine folgsame Gehilfin näher an. Er mußte
von der Prüfung befriedigt sein, denn er schlug jetzt einen mehr ritterlichen
Ton an, stellte bei Befolgung aller seiner Anordnungen baldige Heilung in
Aussicht und versprach am Abend noch einmal wiederzukommen.

Dieses Versprechen war vielleicht mehr seiner günstigen Diagnose des ge¬
sunden Fräuleins von Mechtshausen als der Besorgnis über das Befinden
des leidenden entsprungen. Als er in seinen Wagen stieg, murmelte er so
etwas wie: Retter Käfer! ein Ausdruck, mit dem er so völlig aus dem Sprach¬
gebrauche von Marienzelle herausfiel, wie es ihm schwerlich jemand hätte ganz
klar machen können. Denn ein sehr sein- und wohlerzogner Mann war Dr. Uter-
möhlen nicht, er hatte auch alle Gelegenheiten, es zu werde", ziemlich gleich-
giltig und gelassen versnnmt.

Schon seine Wohnung, der er sich jetzt zum Mittagessen näherte, bewies,
wie wenig er zu ästhetischer Lebenshaltung angelegt war. Der einzige Schmuck
der kahl und dürftig ausgestatteten Junggcsellcnstubc war -- ein Skelett, das
Utermöhlen als junger Student für unumgänglich notwendig gehalten, billig ge¬
kauft, ein paarmal versetzt, aber immer wieder eingelöst hatte. Bücher besaß
er nur in geringer Zahl, unterhaltende Schriften gar nicht; ein altes Kommers¬
buch vertrat die schöne Litteratur. Dafür hielt er sich desto mehr wissenschaft¬
liche Zeitungen. Seine Instrumente waren in sauberster Verfassung, sein Stolz
war ein kostbares Mikroskop, das er sich von den ersten Überschüssen seiner
Praxis angeschafft hatte. Eine rundliche bejahrte Witwe besorgte ihm den
Haushalt und wartete eben auf seine Rückkehr, um ihm ohne viele Zeremonien
sein einfaches Mahl vorzusetzen. Er hatte keinen verwöhnten Geschmack, aber
desto gesundem Hunger.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Das entschleierte Bild von Sais.

Für uns war es längst entschleiert; das
Verdienst aber, die Entschleierung vor versammeltem Kriegsvolk im Reichstage herbei¬
geführt zu haben, hat sich der Zentrumsnbgeordnete Hitze erworben. Das Zentrum


Endlich kein der Arzt, ein verhältnismäßig noch junger Manu. Ohne
viele Umstände zu machen, wandte er sich der Leidenden zu.

Wer hat die vorläufige Einrichtung besorgt? fragte er ziemlich kurz.
Dann entfernte er, ohne auf die Antwort zu achten und ein Urteil daran zu
knüpfen, die Umhüllungen, untersuchte den Arm, stellte kurze Fragen und gab
abgerissene Weisungen. Das junge Fräulein von Mechtshausen kam ihnen
Pünktlich nach, und so war in kurzer Zeit der Arm kunstgerecht eingerichtet.

Nun erst sah sich der Arzt seine folgsame Gehilfin näher an. Er mußte
von der Prüfung befriedigt sein, denn er schlug jetzt einen mehr ritterlichen
Ton an, stellte bei Befolgung aller seiner Anordnungen baldige Heilung in
Aussicht und versprach am Abend noch einmal wiederzukommen.

Dieses Versprechen war vielleicht mehr seiner günstigen Diagnose des ge¬
sunden Fräuleins von Mechtshausen als der Besorgnis über das Befinden
des leidenden entsprungen. Als er in seinen Wagen stieg, murmelte er so
etwas wie: Retter Käfer! ein Ausdruck, mit dem er so völlig aus dem Sprach¬
gebrauche von Marienzelle herausfiel, wie es ihm schwerlich jemand hätte ganz
klar machen können. Denn ein sehr sein- und wohlerzogner Mann war Dr. Uter-
möhlen nicht, er hatte auch alle Gelegenheiten, es zu werde», ziemlich gleich-
giltig und gelassen versnnmt.

Schon seine Wohnung, der er sich jetzt zum Mittagessen näherte, bewies,
wie wenig er zu ästhetischer Lebenshaltung angelegt war. Der einzige Schmuck
der kahl und dürftig ausgestatteten Junggcsellcnstubc war — ein Skelett, das
Utermöhlen als junger Student für unumgänglich notwendig gehalten, billig ge¬
kauft, ein paarmal versetzt, aber immer wieder eingelöst hatte. Bücher besaß
er nur in geringer Zahl, unterhaltende Schriften gar nicht; ein altes Kommers¬
buch vertrat die schöne Litteratur. Dafür hielt er sich desto mehr wissenschaft¬
liche Zeitungen. Seine Instrumente waren in sauberster Verfassung, sein Stolz
war ein kostbares Mikroskop, das er sich von den ersten Überschüssen seiner
Praxis angeschafft hatte. Eine rundliche bejahrte Witwe besorgte ihm den
Haushalt und wartete eben auf seine Rückkehr, um ihm ohne viele Zeremonien
sein einfaches Mahl vorzusetzen. Er hatte keinen verwöhnten Geschmack, aber
desto gesundem Hunger.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Das entschleierte Bild von Sais.

Für uns war es längst entschleiert; das
Verdienst aber, die Entschleierung vor versammeltem Kriegsvolk im Reichstage herbei¬
geführt zu haben, hat sich der Zentrumsnbgeordnete Hitze erworben. Das Zentrum


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[0335] Endlich kein der Arzt, ein verhältnismäßig noch junger Manu. Ohne viele Umstände zu machen, wandte er sich der Leidenden zu. Wer hat die vorläufige Einrichtung besorgt? fragte er ziemlich kurz. Dann entfernte er, ohne auf die Antwort zu achten und ein Urteil daran zu knüpfen, die Umhüllungen, untersuchte den Arm, stellte kurze Fragen und gab abgerissene Weisungen. Das junge Fräulein von Mechtshausen kam ihnen Pünktlich nach, und so war in kurzer Zeit der Arm kunstgerecht eingerichtet. Nun erst sah sich der Arzt seine folgsame Gehilfin näher an. Er mußte von der Prüfung befriedigt sein, denn er schlug jetzt einen mehr ritterlichen Ton an, stellte bei Befolgung aller seiner Anordnungen baldige Heilung in Aussicht und versprach am Abend noch einmal wiederzukommen. Dieses Versprechen war vielleicht mehr seiner günstigen Diagnose des ge¬ sunden Fräuleins von Mechtshausen als der Besorgnis über das Befinden des leidenden entsprungen. Als er in seinen Wagen stieg, murmelte er so etwas wie: Retter Käfer! ein Ausdruck, mit dem er so völlig aus dem Sprach¬ gebrauche von Marienzelle herausfiel, wie es ihm schwerlich jemand hätte ganz klar machen können. Denn ein sehr sein- und wohlerzogner Mann war Dr. Uter- möhlen nicht, er hatte auch alle Gelegenheiten, es zu werde», ziemlich gleich- giltig und gelassen versnnmt. Schon seine Wohnung, der er sich jetzt zum Mittagessen näherte, bewies, wie wenig er zu ästhetischer Lebenshaltung angelegt war. Der einzige Schmuck der kahl und dürftig ausgestatteten Junggcsellcnstubc war — ein Skelett, das Utermöhlen als junger Student für unumgänglich notwendig gehalten, billig ge¬ kauft, ein paarmal versetzt, aber immer wieder eingelöst hatte. Bücher besaß er nur in geringer Zahl, unterhaltende Schriften gar nicht; ein altes Kommers¬ buch vertrat die schöne Litteratur. Dafür hielt er sich desto mehr wissenschaft¬ liche Zeitungen. Seine Instrumente waren in sauberster Verfassung, sein Stolz war ein kostbares Mikroskop, das er sich von den ersten Überschüssen seiner Praxis angeschafft hatte. Eine rundliche bejahrte Witwe besorgte ihm den Haushalt und wartete eben auf seine Rückkehr, um ihm ohne viele Zeremonien sein einfaches Mahl vorzusetzen. Er hatte keinen verwöhnten Geschmack, aber desto gesundem Hunger. Maßgebliches und Unmaßgebliches Das entschleierte Bild von Sais. Für uns war es längst entschleiert; das Verdienst aber, die Entschleierung vor versammeltem Kriegsvolk im Reichstage herbei¬ geführt zu haben, hat sich der Zentrumsnbgeordnete Hitze erworben. Das Zentrum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/335>, abgerufen am 28.04.2024.