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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Der Streit der Fakultäten

einandersetzte, oder seine Mutter, wie sie einem durchfrornen bessern Kunden
vom Lande eine Tasse Kaffee vorsetzte und in dem heimischen Platt die Aus¬
sichten der Schweinezucht erörterte. So ließ er in seiner Antwort den warmen
Herzeuston vermissen und sprach nur in sehr allgemeinen Ausdrücken von
seinen Eltern und Geschwistern, ohne zu ahnen, daß das junge Mädchen durch
ein weniger scheues Verhüllen seiner Familienverhältnisse mehr angezogen
worden wäre; diese hätten weit weniger fest gegründet, weniger gut geordnet
sein dürfen, mit mehr Liebe, Freimut und Anhänglichkeit dargestellt und ge¬
schildert, hätten sie das Fräulein doch nicht so abgestoßen, als der ihnen
entwachsene Sohn in thörichter Ängstlichkeit fürchtete.

Die Sonne war bereits dem Untergang ganz nahe, und es wurde
dämmrig in dem hohen Gemach mit den tiefen Fensternischen. Es wurde
Licht gebracht; man stand auf, um in ein andres Zimmer zu gehen. Man
hatte sich eigentlich nichts mehr zu sagen. Um doch von etwas zu sprechen,
kam man auf den Hausverkauf zurück. Es lag dciriu schon so etwas wie Ver¬
abschiedung.

Vogelsang fühlte das schnell heraus; nur um nicht unmittelbar nach der
Mahlzeit wegzugehen, verweilte er noch einige Zeit und suchte den Hausverkauf
durch Anführung vieler andern Baupläne in eine mildere Beleuchtung zu
rücken. Endlich stand er auf, bat, die Zeit des Bedenkens nicht zu weit aus¬
zudehnen, und verabschiedete sich.

Während er durch die Dämmerung dem nächsten Dorfe zufuhr, saßen
Tante und Nichte noch eine Weile beisammen. Die Unterhaltung war nur
schleppend, trotz der für Marienzelle ziemlich zahlreichen Tagescindrücke. Für
die Tante waren Klages und Vogelsang beide abgethan; die Nichte beschäftigte
sich auch nach dem Gutenachtsageu noch mit ihnen. Die unbestimmte, nach
geistiger Entfaltung verlangende Art des einen und die äußerlich abgeschlossene,
sichrere, selbstbewußtere Weise des andern regten sie zu Bergleichen an.

Aber sie sollte ihr Studium der bis dahin ihr so fremden studirten
Männer noch nicht so bald abgeschlossen haben. Am folgenden Tage brach
ihre Tante, als sie beim übereifriger Neuanordnen einer Portiere einen
Fehltritt that, den linken Arm. Sonst begeisterte Anhängerin der homöo¬
pathischen Heillehre, mußte sie jetzt darein willigen, daß der Arzt aus dem
nächsten Flecken gerufen wurde. Er ließ lange auf sich warten. Denn als
der Bote in seinem Hause angekommen war, war er schon über Land gewesen.
Man mußte sich gedulden; vielleicht fügte es der Zufall, daß der Arzt auf
seiner Rundfahrt Marienzelle berührte. Vorläufig traf die Nichte, unbeirrt
von den mannichfachen Ratschlägen der aus allen Stiftskurien zur Teilnahme
herbeieilenden Damen, vernünftige Anordnungen. Sie gab dem verletzten
Arme eine sichere Lage und mit großem Geschick einen vorläufigen Halt und
sorgte für Kühlung des beschädigten Gliedes.


Der Streit der Fakultäten

einandersetzte, oder seine Mutter, wie sie einem durchfrornen bessern Kunden
vom Lande eine Tasse Kaffee vorsetzte und in dem heimischen Platt die Aus¬
sichten der Schweinezucht erörterte. So ließ er in seiner Antwort den warmen
Herzeuston vermissen und sprach nur in sehr allgemeinen Ausdrücken von
seinen Eltern und Geschwistern, ohne zu ahnen, daß das junge Mädchen durch
ein weniger scheues Verhüllen seiner Familienverhältnisse mehr angezogen
worden wäre; diese hätten weit weniger fest gegründet, weniger gut geordnet
sein dürfen, mit mehr Liebe, Freimut und Anhänglichkeit dargestellt und ge¬
schildert, hätten sie das Fräulein doch nicht so abgestoßen, als der ihnen
entwachsene Sohn in thörichter Ängstlichkeit fürchtete.

Die Sonne war bereits dem Untergang ganz nahe, und es wurde
dämmrig in dem hohen Gemach mit den tiefen Fensternischen. Es wurde
Licht gebracht; man stand auf, um in ein andres Zimmer zu gehen. Man
hatte sich eigentlich nichts mehr zu sagen. Um doch von etwas zu sprechen,
kam man auf den Hausverkauf zurück. Es lag dciriu schon so etwas wie Ver¬
abschiedung.

Vogelsang fühlte das schnell heraus; nur um nicht unmittelbar nach der
Mahlzeit wegzugehen, verweilte er noch einige Zeit und suchte den Hausverkauf
durch Anführung vieler andern Baupläne in eine mildere Beleuchtung zu
rücken. Endlich stand er auf, bat, die Zeit des Bedenkens nicht zu weit aus¬
zudehnen, und verabschiedete sich.

Während er durch die Dämmerung dem nächsten Dorfe zufuhr, saßen
Tante und Nichte noch eine Weile beisammen. Die Unterhaltung war nur
schleppend, trotz der für Marienzelle ziemlich zahlreichen Tagescindrücke. Für
die Tante waren Klages und Vogelsang beide abgethan; die Nichte beschäftigte
sich auch nach dem Gutenachtsageu noch mit ihnen. Die unbestimmte, nach
geistiger Entfaltung verlangende Art des einen und die äußerlich abgeschlossene,
sichrere, selbstbewußtere Weise des andern regten sie zu Bergleichen an.

Aber sie sollte ihr Studium der bis dahin ihr so fremden studirten
Männer noch nicht so bald abgeschlossen haben. Am folgenden Tage brach
ihre Tante, als sie beim übereifriger Neuanordnen einer Portiere einen
Fehltritt that, den linken Arm. Sonst begeisterte Anhängerin der homöo¬
pathischen Heillehre, mußte sie jetzt darein willigen, daß der Arzt aus dem
nächsten Flecken gerufen wurde. Er ließ lange auf sich warten. Denn als
der Bote in seinem Hause angekommen war, war er schon über Land gewesen.
Man mußte sich gedulden; vielleicht fügte es der Zufall, daß der Arzt auf
seiner Rundfahrt Marienzelle berührte. Vorläufig traf die Nichte, unbeirrt
von den mannichfachen Ratschlägen der aus allen Stiftskurien zur Teilnahme
herbeieilenden Damen, vernünftige Anordnungen. Sie gab dem verletzten
Arme eine sichere Lage und mit großem Geschick einen vorläufigen Halt und
sorgte für Kühlung des beschädigten Gliedes.


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[0334] Der Streit der Fakultäten einandersetzte, oder seine Mutter, wie sie einem durchfrornen bessern Kunden vom Lande eine Tasse Kaffee vorsetzte und in dem heimischen Platt die Aus¬ sichten der Schweinezucht erörterte. So ließ er in seiner Antwort den warmen Herzeuston vermissen und sprach nur in sehr allgemeinen Ausdrücken von seinen Eltern und Geschwistern, ohne zu ahnen, daß das junge Mädchen durch ein weniger scheues Verhüllen seiner Familienverhältnisse mehr angezogen worden wäre; diese hätten weit weniger fest gegründet, weniger gut geordnet sein dürfen, mit mehr Liebe, Freimut und Anhänglichkeit dargestellt und ge¬ schildert, hätten sie das Fräulein doch nicht so abgestoßen, als der ihnen entwachsene Sohn in thörichter Ängstlichkeit fürchtete. Die Sonne war bereits dem Untergang ganz nahe, und es wurde dämmrig in dem hohen Gemach mit den tiefen Fensternischen. Es wurde Licht gebracht; man stand auf, um in ein andres Zimmer zu gehen. Man hatte sich eigentlich nichts mehr zu sagen. Um doch von etwas zu sprechen, kam man auf den Hausverkauf zurück. Es lag dciriu schon so etwas wie Ver¬ abschiedung. Vogelsang fühlte das schnell heraus; nur um nicht unmittelbar nach der Mahlzeit wegzugehen, verweilte er noch einige Zeit und suchte den Hausverkauf durch Anführung vieler andern Baupläne in eine mildere Beleuchtung zu rücken. Endlich stand er auf, bat, die Zeit des Bedenkens nicht zu weit aus¬ zudehnen, und verabschiedete sich. Während er durch die Dämmerung dem nächsten Dorfe zufuhr, saßen Tante und Nichte noch eine Weile beisammen. Die Unterhaltung war nur schleppend, trotz der für Marienzelle ziemlich zahlreichen Tagescindrücke. Für die Tante waren Klages und Vogelsang beide abgethan; die Nichte beschäftigte sich auch nach dem Gutenachtsageu noch mit ihnen. Die unbestimmte, nach geistiger Entfaltung verlangende Art des einen und die äußerlich abgeschlossene, sichrere, selbstbewußtere Weise des andern regten sie zu Bergleichen an. Aber sie sollte ihr Studium der bis dahin ihr so fremden studirten Männer noch nicht so bald abgeschlossen haben. Am folgenden Tage brach ihre Tante, als sie beim übereifriger Neuanordnen einer Portiere einen Fehltritt that, den linken Arm. Sonst begeisterte Anhängerin der homöo¬ pathischen Heillehre, mußte sie jetzt darein willigen, daß der Arzt aus dem nächsten Flecken gerufen wurde. Er ließ lange auf sich warten. Denn als der Bote in seinem Hause angekommen war, war er schon über Land gewesen. Man mußte sich gedulden; vielleicht fügte es der Zufall, daß der Arzt auf seiner Rundfahrt Marienzelle berührte. Vorläufig traf die Nichte, unbeirrt von den mannichfachen Ratschlägen der aus allen Stiftskurien zur Teilnahme herbeieilenden Damen, vernünftige Anordnungen. Sie gab dem verletzten Arme eine sichere Lage und mit großem Geschick einen vorläufigen Halt und sorgte für Kühlung des beschädigten Gliedes.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/334>, abgerufen am 14.05.2024.