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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

geistreich gefunden haben, aber auch nicht polizeiwidrig; der Nachzensvr war
entsetzt und forderte den Staatsanwalt zur Anklage wegen Verspottung des
Sakraments der Ehe auf. Als Antwort empfing er das höfliche Ersuchen um
Vervollständigung des Anklagematerials durch den Trauschein des alten Herrn
und des jungen Frauenzimmers. Der Prozeß soll nicht eingeleitet worden sein.

Solche Zustände wirken demoralisirend nach verschiednen Seiten hin. Ge¬
rade an die Stellen, denen die genaueste Kenntnis der Bedürfnisse und Wünsche
der Bevölkerung vermittelt werden sollte, und die sie meistens auch zu erlangen
suchen, gelangt sie bekanntlich am schwersten, und keineswegs wird die Wahr¬
heit nur darum verheimlicht, entstellt oder doch verschleiert, weil ihr Bekannt¬
werden Personen der Umgebung gefährlich werden konnte: es giebt Beispiele
übergenug, daß wichtiges vorenthalten wurde, nur um dem Herrscher eine"
Augenblick Aufregung, eine kurze Verstimmung zu ersparen. Das läßt sich
natürlich desto leichter durchführen, wenn nur solche Berichte in den Akten
und in der Öffentlichkeit erscheinen dürfen, bei deren Abfassung gezwungner¬
maßen schon dieselbe Vorsicht und Rücksicht gewaltet hat.

Weiter: In der Beamtenschaft, die Ansichten vertreten, Anordnungen be¬
folgen muß, die sie als unbegründet erkennt, deren sie sich vielleicht schämt,
nistet sich Widerwille, verhaltner Groll, Neigung zu passivem Widerstande ein,
der bei weniger ernsten Charakteren sich in Hohn und Herabwürdigung äußern
kaun. Die stets zum Froudiren aufgelegte Bevölkerung der großen Städte
nimmt solche Verstimmungen bereitwillig auf, und von da verbreitet sich der
Ansteckungsstoff über das ganze Land und verdirbt den freudigen Anteil am
Staatsleben auch da, wo ihm noch Gelegenheit zur Bethätigung gelassen wäre.
Wohin das führt, haben wir 1848 gesehen.




Wandlungen des Das im Zeitenstrome
5. Unstudentisches Studentenleben

o wurde ich denn von tüchtigen Professoren nochmals mit katho¬
lischem Geiste angefüllt, und diese dritte Eingießnng einer kirch¬
lichen Glaubenslehre war noch in höherm Grade als die zweite
von kräftigen Einwirkungen auf Phantasie und Gemüt begleitet.
Wenige Tage nach meiner Ankunft in Breslau. im Oktober 1852,
begann eine Jesuitenmission. Je drei Patres predigten täglich dreimal in
einer der großen und schönen Breslauer Kirchen. Alle drei Predigten konnte


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

geistreich gefunden haben, aber auch nicht polizeiwidrig; der Nachzensvr war
entsetzt und forderte den Staatsanwalt zur Anklage wegen Verspottung des
Sakraments der Ehe auf. Als Antwort empfing er das höfliche Ersuchen um
Vervollständigung des Anklagematerials durch den Trauschein des alten Herrn
und des jungen Frauenzimmers. Der Prozeß soll nicht eingeleitet worden sein.

Solche Zustände wirken demoralisirend nach verschiednen Seiten hin. Ge¬
rade an die Stellen, denen die genaueste Kenntnis der Bedürfnisse und Wünsche
der Bevölkerung vermittelt werden sollte, und die sie meistens auch zu erlangen
suchen, gelangt sie bekanntlich am schwersten, und keineswegs wird die Wahr¬
heit nur darum verheimlicht, entstellt oder doch verschleiert, weil ihr Bekannt¬
werden Personen der Umgebung gefährlich werden konnte: es giebt Beispiele
übergenug, daß wichtiges vorenthalten wurde, nur um dem Herrscher eine«
Augenblick Aufregung, eine kurze Verstimmung zu ersparen. Das läßt sich
natürlich desto leichter durchführen, wenn nur solche Berichte in den Akten
und in der Öffentlichkeit erscheinen dürfen, bei deren Abfassung gezwungner¬
maßen schon dieselbe Vorsicht und Rücksicht gewaltet hat.

Weiter: In der Beamtenschaft, die Ansichten vertreten, Anordnungen be¬
folgen muß, die sie als unbegründet erkennt, deren sie sich vielleicht schämt,
nistet sich Widerwille, verhaltner Groll, Neigung zu passivem Widerstande ein,
der bei weniger ernsten Charakteren sich in Hohn und Herabwürdigung äußern
kaun. Die stets zum Froudiren aufgelegte Bevölkerung der großen Städte
nimmt solche Verstimmungen bereitwillig auf, und von da verbreitet sich der
Ansteckungsstoff über das ganze Land und verdirbt den freudigen Anteil am
Staatsleben auch da, wo ihm noch Gelegenheit zur Bethätigung gelassen wäre.
Wohin das führt, haben wir 1848 gesehen.




Wandlungen des Das im Zeitenstrome
5. Unstudentisches Studentenleben

o wurde ich denn von tüchtigen Professoren nochmals mit katho¬
lischem Geiste angefüllt, und diese dritte Eingießnng einer kirch¬
lichen Glaubenslehre war noch in höherm Grade als die zweite
von kräftigen Einwirkungen auf Phantasie und Gemüt begleitet.
Wenige Tage nach meiner Ankunft in Breslau. im Oktober 1852,
begann eine Jesuitenmission. Je drei Patres predigten täglich dreimal in
einer der großen und schönen Breslauer Kirchen. Alle drei Predigten konnte


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[0528] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome geistreich gefunden haben, aber auch nicht polizeiwidrig; der Nachzensvr war entsetzt und forderte den Staatsanwalt zur Anklage wegen Verspottung des Sakraments der Ehe auf. Als Antwort empfing er das höfliche Ersuchen um Vervollständigung des Anklagematerials durch den Trauschein des alten Herrn und des jungen Frauenzimmers. Der Prozeß soll nicht eingeleitet worden sein. Solche Zustände wirken demoralisirend nach verschiednen Seiten hin. Ge¬ rade an die Stellen, denen die genaueste Kenntnis der Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung vermittelt werden sollte, und die sie meistens auch zu erlangen suchen, gelangt sie bekanntlich am schwersten, und keineswegs wird die Wahr¬ heit nur darum verheimlicht, entstellt oder doch verschleiert, weil ihr Bekannt¬ werden Personen der Umgebung gefährlich werden konnte: es giebt Beispiele übergenug, daß wichtiges vorenthalten wurde, nur um dem Herrscher eine« Augenblick Aufregung, eine kurze Verstimmung zu ersparen. Das läßt sich natürlich desto leichter durchführen, wenn nur solche Berichte in den Akten und in der Öffentlichkeit erscheinen dürfen, bei deren Abfassung gezwungner¬ maßen schon dieselbe Vorsicht und Rücksicht gewaltet hat. Weiter: In der Beamtenschaft, die Ansichten vertreten, Anordnungen be¬ folgen muß, die sie als unbegründet erkennt, deren sie sich vielleicht schämt, nistet sich Widerwille, verhaltner Groll, Neigung zu passivem Widerstande ein, der bei weniger ernsten Charakteren sich in Hohn und Herabwürdigung äußern kaun. Die stets zum Froudiren aufgelegte Bevölkerung der großen Städte nimmt solche Verstimmungen bereitwillig auf, und von da verbreitet sich der Ansteckungsstoff über das ganze Land und verdirbt den freudigen Anteil am Staatsleben auch da, wo ihm noch Gelegenheit zur Bethätigung gelassen wäre. Wohin das führt, haben wir 1848 gesehen. Wandlungen des Das im Zeitenstrome 5. Unstudentisches Studentenleben o wurde ich denn von tüchtigen Professoren nochmals mit katho¬ lischem Geiste angefüllt, und diese dritte Eingießnng einer kirch¬ lichen Glaubenslehre war noch in höherm Grade als die zweite von kräftigen Einwirkungen auf Phantasie und Gemüt begleitet. Wenige Tage nach meiner Ankunft in Breslau. im Oktober 1852, begann eine Jesuitenmission. Je drei Patres predigten täglich dreimal in einer der großen und schönen Breslauer Kirchen. Alle drei Predigten konnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/528>, abgerufen am 28.04.2024.