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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der erste Beste

Wer möchte sich eine solche homöopathische Verdünnung des Lebens wünschen,
ehe es erlischt?

Renan schrieb kurz vor seinem Tode: "Wenn mir in meinen letzten Jahren
nicht noch herbe Leiden zugeteilt werden, so kann ich, indem ich vom Leben
scheide, nur dem Urquell alles Guten für den reizenden Spaziergang danken,
den er mich durch die Wirklichkeit hat thun lassen." Beneidenswerter Renan!
Deutscher und tiefer äußert sich Nietzsche, wenn er in glücklicher Ahnuugs-
losigkeit seines eignen beklagenswerten Schicksals sagt: "Dasselbe Leben, das
seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem
milden Sonnenglanze einer beständigen geistigen Freudigkeit. Dann ist es Zeit
und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte
zu -- deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis -- dein letzter
Laut."




Der erste Beste
Giro Verdeck Erzählung von
(Schluß)
19

etzt aber -- es kam wieder ein Wagen angerumpelt --, dieser
mußte doch nun endlich vor dem Hause still halten. Fran
Heidenreich ließ das Zeitungsblatt sinken und sah wieder nach
der Uhr. Jetzt konnten sie wirklich da sein. Sie horchte nach
dem offnen Fenster hin. Richtig, er hielt. Da klappte der
Schlag zu. Nun noch die Treppen heraus -- o Himmel, wie sie
sich auf das Kind freute! Jetzt waren sie im ersten Stock, jetzt im zweiten.
Sie richtete sich von ihrem Kissen auf, sie schob die Decke von den Knieen,
wollte aufstehen " da rasselte das Thürschloß draußen, und wenige Sekunden
später schoß auch schon Margarete ins Zimmer. Wie eine Schwalbe, rief
der Regierungsrat vergnügt.

Stürmisch, gar nicht schwalbenhaft fiel sie über die Mutter her.

Mein Süßes, mein Einziges! Mama, Mama! Hab ich dich! Gieb her
dein liebes Gesicht! Wie siehst du aus? Blaß -- aber schrecklich lieb. Wie
konntest du krank werden! O meine geliebte Mama!

Nu nu, laß mir nur noch ein Endchen von ihr übrig, rief der Vater
lachend. Du zerdrückst und zerknüllst sie mir ja ganz.

Ach, laß mich sie nur ein bischen zerdrücken, bat Margarete. Ich mach
sie dann wieder glatt -- nicht wahr, du?

Sie kauerte auf dem Rande des Divans, auf dem sie die Mutter mit
zärtlichen Händen "angenagelt" hatte. Die also Gemaßregelte sah mit ihrem


Der erste Beste

Wer möchte sich eine solche homöopathische Verdünnung des Lebens wünschen,
ehe es erlischt?

Renan schrieb kurz vor seinem Tode: „Wenn mir in meinen letzten Jahren
nicht noch herbe Leiden zugeteilt werden, so kann ich, indem ich vom Leben
scheide, nur dem Urquell alles Guten für den reizenden Spaziergang danken,
den er mich durch die Wirklichkeit hat thun lassen." Beneidenswerter Renan!
Deutscher und tiefer äußert sich Nietzsche, wenn er in glücklicher Ahnuugs-
losigkeit seines eignen beklagenswerten Schicksals sagt: „Dasselbe Leben, das
seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem
milden Sonnenglanze einer beständigen geistigen Freudigkeit. Dann ist es Zeit
und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte
zu — deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis — dein letzter
Laut."




Der erste Beste
Giro Verdeck Erzählung von
(Schluß)
19

etzt aber — es kam wieder ein Wagen angerumpelt —, dieser
mußte doch nun endlich vor dem Hause still halten. Fran
Heidenreich ließ das Zeitungsblatt sinken und sah wieder nach
der Uhr. Jetzt konnten sie wirklich da sein. Sie horchte nach
dem offnen Fenster hin. Richtig, er hielt. Da klappte der
Schlag zu. Nun noch die Treppen heraus — o Himmel, wie sie
sich auf das Kind freute! Jetzt waren sie im ersten Stock, jetzt im zweiten.
Sie richtete sich von ihrem Kissen auf, sie schob die Decke von den Knieen,
wollte aufstehen " da rasselte das Thürschloß draußen, und wenige Sekunden
später schoß auch schon Margarete ins Zimmer. Wie eine Schwalbe, rief
der Regierungsrat vergnügt.

Stürmisch, gar nicht schwalbenhaft fiel sie über die Mutter her.

Mein Süßes, mein Einziges! Mama, Mama! Hab ich dich! Gieb her
dein liebes Gesicht! Wie siehst du aus? Blaß — aber schrecklich lieb. Wie
konntest du krank werden! O meine geliebte Mama!

Nu nu, laß mir nur noch ein Endchen von ihr übrig, rief der Vater
lachend. Du zerdrückst und zerknüllst sie mir ja ganz.

Ach, laß mich sie nur ein bischen zerdrücken, bat Margarete. Ich mach
sie dann wieder glatt — nicht wahr, du?

Sie kauerte auf dem Rande des Divans, auf dem sie die Mutter mit
zärtlichen Händen „angenagelt" hatte. Die also Gemaßregelte sah mit ihrem


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[0293] Der erste Beste Wer möchte sich eine solche homöopathische Verdünnung des Lebens wünschen, ehe es erlischt? Renan schrieb kurz vor seinem Tode: „Wenn mir in meinen letzten Jahren nicht noch herbe Leiden zugeteilt werden, so kann ich, indem ich vom Leben scheide, nur dem Urquell alles Guten für den reizenden Spaziergang danken, den er mich durch die Wirklichkeit hat thun lassen." Beneidenswerter Renan! Deutscher und tiefer äußert sich Nietzsche, wenn er in glücklicher Ahnuugs- losigkeit seines eignen beklagenswerten Schicksals sagt: „Dasselbe Leben, das seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanze einer beständigen geistigen Freudigkeit. Dann ist es Zeit und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu — deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntnis — dein letzter Laut." Der erste Beste Giro Verdeck Erzählung von (Schluß) 19 etzt aber — es kam wieder ein Wagen angerumpelt —, dieser mußte doch nun endlich vor dem Hause still halten. Fran Heidenreich ließ das Zeitungsblatt sinken und sah wieder nach der Uhr. Jetzt konnten sie wirklich da sein. Sie horchte nach dem offnen Fenster hin. Richtig, er hielt. Da klappte der Schlag zu. Nun noch die Treppen heraus — o Himmel, wie sie sich auf das Kind freute! Jetzt waren sie im ersten Stock, jetzt im zweiten. Sie richtete sich von ihrem Kissen auf, sie schob die Decke von den Knieen, wollte aufstehen " da rasselte das Thürschloß draußen, und wenige Sekunden später schoß auch schon Margarete ins Zimmer. Wie eine Schwalbe, rief der Regierungsrat vergnügt. Stürmisch, gar nicht schwalbenhaft fiel sie über die Mutter her. Mein Süßes, mein Einziges! Mama, Mama! Hab ich dich! Gieb her dein liebes Gesicht! Wie siehst du aus? Blaß — aber schrecklich lieb. Wie konntest du krank werden! O meine geliebte Mama! Nu nu, laß mir nur noch ein Endchen von ihr übrig, rief der Vater lachend. Du zerdrückst und zerknüllst sie mir ja ganz. Ach, laß mich sie nur ein bischen zerdrücken, bat Margarete. Ich mach sie dann wieder glatt — nicht wahr, du? Sie kauerte auf dem Rande des Divans, auf dem sie die Mutter mit zärtlichen Händen „angenagelt" hatte. Die also Gemaßregelte sah mit ihrem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/293>, abgerufen am 28.04.2024.