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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Alte Teute

gehen lassen, die gebornen Optimisten, die allem eine helle Seite abzu¬
gewinnen verstanden. Dafür enden sie dann auch nicht in Nacht und Grauen,
wie die Murrköpfe und stachelschaligen Sonderlinge, die in Selbstsucht stecken
geblieben sind, sondern in dem sanften Scheine der Abendsonne, wo immer ihr
Weg liegen möge, gleichviel ob auf den Höhen oder in den Tiefen der Ge¬
sellschaft.'

Niemand wird behaupten wollen, daß dem Alter die Lebensfreude fehle.
Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Daß alte Leute häufiger als junge von
jener Stimmung befallen werden, die Salomo mit den Worten ausdrückt: "Es
ist alles eitel" -- ist nur natürlich. Die Todessehnsucht ist ein Gefühl, dazu
bestimmt, den Weg zur Ausgangspforte zu einer Vig. trinuipIuM zu machen;
deshalb stellt sie sich ein, wenn das Leben ebbt. Sein unabänderliches Schicksal
selbst zu wollen -- das ist Freiheit. Wer den Schlaf sucht, weil er müde
ist, und das Nirwana, weil die Schleier der Maja vor ihm gefallen sind, der
wirft die Welt von sich. Es ist seine eigne That. Und dennoch: wie wenig
alte Leute mögen wohl den erlösenden Freund Hain, mit dem sie so häufig
geliebüugelt haben, zufrieden lächelnd willkommen heißen, wenn er ihnen end¬
lich die Knochenhand bietet, um sie in jenes Land zu führen, von wo kein
Wandrer wiederkehrt?

Ich kannte ein uraltes Spittelweibleiu, das auf dem weiten Erdenrund
keinen einzigen Verwandten zu nennen wußte und nur noch für die alltäg¬
lichsten Erscheinungen des Lebens ein blödes Verständnis hatte. Aber nie kam
ihr der Wunsch, von der freundlichen Gewohnheit des Daseins zu scheiden,
nicht einmal im Winter, wenn sie fröstelnd an dem spärlich geheizten Ofen
saß, ein Gegenstand des tiefsten Mitleids für alle, die des Anblicks ungewohnt
waren. Aus der Stube, die sie gemeinsam mit drei andern verhuzelten alten
Weibern beherbergte, war sie seit Jahren nicht herausgekommen, weil sie keine
Treppe mehr begehen konnte. Aber an langer Weile litt sie nicht. Einst im
Januar, als ich sie wieder dicht am Ofen gekauert fand und ihre Kinnbacken
vor Kälte aneinanderschlugen, fragte ich sie geradezu, ob sie kein Verlangen
trüge, in die himmlischen Wohnungen überzusiedeln. Da schüttelte sie den
Kopf: "Dazu bleibt noch Zeit genug, Herr; die Ewigkeit ist noch lang. Sehen
Sie: sind wir erst ein paar Wochen weiter, dann scheint mittags schon die
Sonne dort in die Fenster, und meine Blumen fangen an, neue Knospen zu
treiben. Und wenn sie in Blüte stehen, sitze ich dahinter. Und draußen spazieren
Leute vorüber, prächtig gekleidet, und Kinder spielen umher und rufen und
lachen. Ach, Herr, es ist eitel Lust und Herrlichkeit von Morgen bis zum
Abend. Kann ich mir etwas Schöneres wünschen?" Und das frierende uralte
Spittelweiblein hegte und pflegte seinen bescheidnen Frühlingstraum und war
glücklich dabei -- glücklich, obgleich ihr von dem großen Strom der Liebe,
der beständig durch die Menschenherzen flutet, kein Tröpfchen zu gute kam.


Alte Teute

gehen lassen, die gebornen Optimisten, die allem eine helle Seite abzu¬
gewinnen verstanden. Dafür enden sie dann auch nicht in Nacht und Grauen,
wie die Murrköpfe und stachelschaligen Sonderlinge, die in Selbstsucht stecken
geblieben sind, sondern in dem sanften Scheine der Abendsonne, wo immer ihr
Weg liegen möge, gleichviel ob auf den Höhen oder in den Tiefen der Ge¬
sellschaft.'

Niemand wird behaupten wollen, daß dem Alter die Lebensfreude fehle.
Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Daß alte Leute häufiger als junge von
jener Stimmung befallen werden, die Salomo mit den Worten ausdrückt: „Es
ist alles eitel" — ist nur natürlich. Die Todessehnsucht ist ein Gefühl, dazu
bestimmt, den Weg zur Ausgangspforte zu einer Vig. trinuipIuM zu machen;
deshalb stellt sie sich ein, wenn das Leben ebbt. Sein unabänderliches Schicksal
selbst zu wollen — das ist Freiheit. Wer den Schlaf sucht, weil er müde
ist, und das Nirwana, weil die Schleier der Maja vor ihm gefallen sind, der
wirft die Welt von sich. Es ist seine eigne That. Und dennoch: wie wenig
alte Leute mögen wohl den erlösenden Freund Hain, mit dem sie so häufig
geliebüugelt haben, zufrieden lächelnd willkommen heißen, wenn er ihnen end¬
lich die Knochenhand bietet, um sie in jenes Land zu führen, von wo kein
Wandrer wiederkehrt?

Ich kannte ein uraltes Spittelweibleiu, das auf dem weiten Erdenrund
keinen einzigen Verwandten zu nennen wußte und nur noch für die alltäg¬
lichsten Erscheinungen des Lebens ein blödes Verständnis hatte. Aber nie kam
ihr der Wunsch, von der freundlichen Gewohnheit des Daseins zu scheiden,
nicht einmal im Winter, wenn sie fröstelnd an dem spärlich geheizten Ofen
saß, ein Gegenstand des tiefsten Mitleids für alle, die des Anblicks ungewohnt
waren. Aus der Stube, die sie gemeinsam mit drei andern verhuzelten alten
Weibern beherbergte, war sie seit Jahren nicht herausgekommen, weil sie keine
Treppe mehr begehen konnte. Aber an langer Weile litt sie nicht. Einst im
Januar, als ich sie wieder dicht am Ofen gekauert fand und ihre Kinnbacken
vor Kälte aneinanderschlugen, fragte ich sie geradezu, ob sie kein Verlangen
trüge, in die himmlischen Wohnungen überzusiedeln. Da schüttelte sie den
Kopf: „Dazu bleibt noch Zeit genug, Herr; die Ewigkeit ist noch lang. Sehen
Sie: sind wir erst ein paar Wochen weiter, dann scheint mittags schon die
Sonne dort in die Fenster, und meine Blumen fangen an, neue Knospen zu
treiben. Und wenn sie in Blüte stehen, sitze ich dahinter. Und draußen spazieren
Leute vorüber, prächtig gekleidet, und Kinder spielen umher und rufen und
lachen. Ach, Herr, es ist eitel Lust und Herrlichkeit von Morgen bis zum
Abend. Kann ich mir etwas Schöneres wünschen?" Und das frierende uralte
Spittelweiblein hegte und pflegte seinen bescheidnen Frühlingstraum und war
glücklich dabei — glücklich, obgleich ihr von dem großen Strom der Liebe,
der beständig durch die Menschenherzen flutet, kein Tröpfchen zu gute kam.


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[0292] Alte Teute gehen lassen, die gebornen Optimisten, die allem eine helle Seite abzu¬ gewinnen verstanden. Dafür enden sie dann auch nicht in Nacht und Grauen, wie die Murrköpfe und stachelschaligen Sonderlinge, die in Selbstsucht stecken geblieben sind, sondern in dem sanften Scheine der Abendsonne, wo immer ihr Weg liegen möge, gleichviel ob auf den Höhen oder in den Tiefen der Ge¬ sellschaft.' Niemand wird behaupten wollen, daß dem Alter die Lebensfreude fehle. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil. Daß alte Leute häufiger als junge von jener Stimmung befallen werden, die Salomo mit den Worten ausdrückt: „Es ist alles eitel" — ist nur natürlich. Die Todessehnsucht ist ein Gefühl, dazu bestimmt, den Weg zur Ausgangspforte zu einer Vig. trinuipIuM zu machen; deshalb stellt sie sich ein, wenn das Leben ebbt. Sein unabänderliches Schicksal selbst zu wollen — das ist Freiheit. Wer den Schlaf sucht, weil er müde ist, und das Nirwana, weil die Schleier der Maja vor ihm gefallen sind, der wirft die Welt von sich. Es ist seine eigne That. Und dennoch: wie wenig alte Leute mögen wohl den erlösenden Freund Hain, mit dem sie so häufig geliebüugelt haben, zufrieden lächelnd willkommen heißen, wenn er ihnen end¬ lich die Knochenhand bietet, um sie in jenes Land zu führen, von wo kein Wandrer wiederkehrt? Ich kannte ein uraltes Spittelweibleiu, das auf dem weiten Erdenrund keinen einzigen Verwandten zu nennen wußte und nur noch für die alltäg¬ lichsten Erscheinungen des Lebens ein blödes Verständnis hatte. Aber nie kam ihr der Wunsch, von der freundlichen Gewohnheit des Daseins zu scheiden, nicht einmal im Winter, wenn sie fröstelnd an dem spärlich geheizten Ofen saß, ein Gegenstand des tiefsten Mitleids für alle, die des Anblicks ungewohnt waren. Aus der Stube, die sie gemeinsam mit drei andern verhuzelten alten Weibern beherbergte, war sie seit Jahren nicht herausgekommen, weil sie keine Treppe mehr begehen konnte. Aber an langer Weile litt sie nicht. Einst im Januar, als ich sie wieder dicht am Ofen gekauert fand und ihre Kinnbacken vor Kälte aneinanderschlugen, fragte ich sie geradezu, ob sie kein Verlangen trüge, in die himmlischen Wohnungen überzusiedeln. Da schüttelte sie den Kopf: „Dazu bleibt noch Zeit genug, Herr; die Ewigkeit ist noch lang. Sehen Sie: sind wir erst ein paar Wochen weiter, dann scheint mittags schon die Sonne dort in die Fenster, und meine Blumen fangen an, neue Knospen zu treiben. Und wenn sie in Blüte stehen, sitze ich dahinter. Und draußen spazieren Leute vorüber, prächtig gekleidet, und Kinder spielen umher und rufen und lachen. Ach, Herr, es ist eitel Lust und Herrlichkeit von Morgen bis zum Abend. Kann ich mir etwas Schöneres wünschen?" Und das frierende uralte Spittelweiblein hegte und pflegte seinen bescheidnen Frühlingstraum und war glücklich dabei — glücklich, obgleich ihr von dem großen Strom der Liebe, der beständig durch die Menschenherzen flutet, kein Tröpfchen zu gute kam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/292>, abgerufen am 13.05.2024.