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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

will ehrlich liberal sein, da finden wohl auch die Wähler den Mut, an ihm fest¬
zuhalten.) Die Freisinnigen endlich zählen nicht mehr, die Demokraten noch nicht,
und die Sozialdemokraten überhaupt nicht. Wenn also jetzt das Zentrum agra¬
risch SMS xursss wird, so ist damit eine parlamentarische Lage geschaffen, die der
entscheidenden Stelle ein agrarisches Kabinett, das man vorm Jahre noch für zu
anstößig gehalten haben mag, ganz unbedenklich erscheinen lasten muß.


Studirte Bediente.

Wenn es eine Hochstaplerin fertigbringt, bei reichen
Musensöhnen den Eindruck einer gebildeten Aristokratin zu erwecken, so beweist das,
Wie wenig heutzutage, natürlich abgesehen vom Geld, dazu gehört, die Äußerlich¬
keiten und Innerlichkeiten der Bildung zu beherrschen. Wie die Gymnasial- und
Universitätsbildung an Wert gegen früher verloren hat, läßt sich an dem Umstände
ermessen, daß Leute, aus denen man noch vor einem Vierteljahrhundert Professoren
machen konnte, heute froh sein müssen, wenn sie nur an einer Sexta oder Quinta
eines Gymnasiums Beschäftigung finden, oder an einer Bibliothek wenig mehr als
Schreiberdienste verrichten dürfen. Ein unbemittelter Dichter oder Philosoph konnte
sich früher sehr gut als Hauslehrer so lange über Wasser halten, bis sein Ruf
gemacht war. Heute müssen diese Leute die harte und ekle Frohn auf den Bureaus
der Zeituugsplantagenbesitzer auf sich nehmen. Was wunder, wenn sich in der
Frankfurter Zeitung kürzlich eine Annonce fand (7. Juli), worin ein "akademisch
gebildeter junger Mann Stelle als Hauslehrer, Reisebegleiter, Gesellschafter oder
Bedienter sucht." Daran ist gar nichts merkwürdiges in einer Zeit, wo Schrift¬
steller, denen der Erfolg rasch kommen soll, die kitzlichsten und schamlosesten Hand¬
lungen unter dem Banner des Naturalismus beschreiben müssen, wo in großen
Städten Ausläuferstelleu oder Portierposten von 300 bis 500 Leuten umworben
werden. Es fehlt nicht mehr viel, so werden wir in der Zeitung Annoncen haben,
worin Ausläufer gesucht werden, die mehrere Semester antike und moderne Geo¬
graphie nebst Astronomie und ähnlichem studirt haben, um Pakete mit Käse, Kaffee,
Mehl u. f. w. einige Straßen weit zu besorgen. Und da bestreitet man noch, daß
wir an Übervölkerung leiden und Kolonien und Land nötig haben!




Litteratur

Betrachtungen eines in Deutschland reisenden Deutschen. Von P. D. Fischer.
Berlin, Julius Springer, 1895

Der Verfasser der Betrachtungen, die wir hier erhalten, will dem herrschenden
Pessimismus, der das Leben auf deutschem Boden so wenig lebenswert mehr findet,
mit einem Umblick in dem frischen, vollen Leben, das uns umgiebt, entgegentreten
und stützt sich dabei auf die Kenntnis der deutschen Zustände, die er sich auf
funfzigjährigen Reisen und Wanderungen durch Deutschland erworben hat. Er
beruft sich darauf, daß es kaum noch ein deutsches Gebiet gebe, das er nicht öfter


Litteratur

will ehrlich liberal sein, da finden wohl auch die Wähler den Mut, an ihm fest¬
zuhalten.) Die Freisinnigen endlich zählen nicht mehr, die Demokraten noch nicht,
und die Sozialdemokraten überhaupt nicht. Wenn also jetzt das Zentrum agra¬
risch SMS xursss wird, so ist damit eine parlamentarische Lage geschaffen, die der
entscheidenden Stelle ein agrarisches Kabinett, das man vorm Jahre noch für zu
anstößig gehalten haben mag, ganz unbedenklich erscheinen lasten muß.


Studirte Bediente.

Wenn es eine Hochstaplerin fertigbringt, bei reichen
Musensöhnen den Eindruck einer gebildeten Aristokratin zu erwecken, so beweist das,
Wie wenig heutzutage, natürlich abgesehen vom Geld, dazu gehört, die Äußerlich¬
keiten und Innerlichkeiten der Bildung zu beherrschen. Wie die Gymnasial- und
Universitätsbildung an Wert gegen früher verloren hat, läßt sich an dem Umstände
ermessen, daß Leute, aus denen man noch vor einem Vierteljahrhundert Professoren
machen konnte, heute froh sein müssen, wenn sie nur an einer Sexta oder Quinta
eines Gymnasiums Beschäftigung finden, oder an einer Bibliothek wenig mehr als
Schreiberdienste verrichten dürfen. Ein unbemittelter Dichter oder Philosoph konnte
sich früher sehr gut als Hauslehrer so lange über Wasser halten, bis sein Ruf
gemacht war. Heute müssen diese Leute die harte und ekle Frohn auf den Bureaus
der Zeituugsplantagenbesitzer auf sich nehmen. Was wunder, wenn sich in der
Frankfurter Zeitung kürzlich eine Annonce fand (7. Juli), worin ein „akademisch
gebildeter junger Mann Stelle als Hauslehrer, Reisebegleiter, Gesellschafter oder
Bedienter sucht." Daran ist gar nichts merkwürdiges in einer Zeit, wo Schrift¬
steller, denen der Erfolg rasch kommen soll, die kitzlichsten und schamlosesten Hand¬
lungen unter dem Banner des Naturalismus beschreiben müssen, wo in großen
Städten Ausläuferstelleu oder Portierposten von 300 bis 500 Leuten umworben
werden. Es fehlt nicht mehr viel, so werden wir in der Zeitung Annoncen haben,
worin Ausläufer gesucht werden, die mehrere Semester antike und moderne Geo¬
graphie nebst Astronomie und ähnlichem studirt haben, um Pakete mit Käse, Kaffee,
Mehl u. f. w. einige Straßen weit zu besorgen. Und da bestreitet man noch, daß
wir an Übervölkerung leiden und Kolonien und Land nötig haben!




Litteratur

Betrachtungen eines in Deutschland reisenden Deutschen. Von P. D. Fischer.
Berlin, Julius Springer, 1895

Der Verfasser der Betrachtungen, die wir hier erhalten, will dem herrschenden
Pessimismus, der das Leben auf deutschem Boden so wenig lebenswert mehr findet,
mit einem Umblick in dem frischen, vollen Leben, das uns umgiebt, entgegentreten
und stützt sich dabei auf die Kenntnis der deutschen Zustände, die er sich auf
funfzigjährigen Reisen und Wanderungen durch Deutschland erworben hat. Er
beruft sich darauf, daß es kaum noch ein deutsches Gebiet gebe, das er nicht öfter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/399>, abgerufen am 28.04.2024.