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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Sie Prügelstrafe in der Volksschule

uns, und wills Gott, noch einige tausend Jahre vor uns. Auf eine mehr¬
jährige Ruhepause kann es also, sollte man meinen, in der Geschichte einer
großen Kulturnation nicht ankommen, zumal wenn sie hiermit die Gefahr ver¬
meiden kann, falsche Wege einzuschlagen und dadurch auf weit längere Zeit-
Perioden hinaus in ihrer natürlichen Entwicklung zurückgeworfen zu werden.

Freilich auch diese ruhige und bedächtige Arbeit der Vorbereitung ist nur
möglich, wenn dabei die verfassungsmäßigen Grundlagen des ganzen Staats¬
wesens nicht in Frage gestellt werden. Sollte es die Sozialdemokratie ver¬
suchen, so haben wir den Belagerungszustand. Hören die Beunruhigungen
von der andern Seite nicht bald auf, so wird es die Ironie der Weltgeschichte
noch mit sich bringen, daß die internationale Umsturzpartei in Deutschland
die Pose der entschlossensten Vorkämpferin für die bestehende Staats- und
Gesellschaftsordnung annehmen kann.




Die Prügelstrafe in der Volksschule
v Joseph Müller on

s ist wunderbar, sagt ein moderner Schriftsteller, wieviel inter¬
essante Dinge heutzutage trotz des ungeheuern Verbrauchs von
Druckerschwärze ungeschrieben bleiben. Zu diesen Dingen gehört
auch das vorliegende Thema. Es erfordert einen gewissen Mut,
nur an seine Besprechung zu gehen in einer Zeit, wo eine ruhige
Debatte so selten ist, und wo sich selbst Regierungen in ihren Verwaltungs¬
maßregeln mehr von politischen als von sachlichen Erwägungen leiten lassen.
Aber die Vertuschung, die Vogelstraußpolitik, so bequem sie für manchen sein
mag, läßt sich doch auf die Dauer nicht aufrecht erhalten, und es ist vielleicht
bester, an die Beseitigung von Übeln zu gehen, ehe sie zu unerträglichen Mi߬
ständen geführt haben.

Auch dem oberflächlichsten Leser der Tagespresse muß sich die erschreckende
Zunahme der Lehrerprozesse wegen "Überschreitung des Züchtigungsrechts" auf¬
drängen. Es handelt sich dabei in der Regel um Körperverletzungen der
schwersten Art, vielfach um lebenslängliche Schädigung der Kinder. Gleichwohl
sind die Strafen dafür durchweg lächerlich gering, und Freisprechung selbst in
krassen Fällen keineswegs selten. In der Regel tritt der gesamte Apparat der
Schulbehörde unter Beihilfe des vivisecirenden Arztes als "Sachverständigen"
wie ein Mann für den Fachgenossen ein, und auch die Staatsanwälte und


Sie Prügelstrafe in der Volksschule

uns, und wills Gott, noch einige tausend Jahre vor uns. Auf eine mehr¬
jährige Ruhepause kann es also, sollte man meinen, in der Geschichte einer
großen Kulturnation nicht ankommen, zumal wenn sie hiermit die Gefahr ver¬
meiden kann, falsche Wege einzuschlagen und dadurch auf weit längere Zeit-
Perioden hinaus in ihrer natürlichen Entwicklung zurückgeworfen zu werden.

Freilich auch diese ruhige und bedächtige Arbeit der Vorbereitung ist nur
möglich, wenn dabei die verfassungsmäßigen Grundlagen des ganzen Staats¬
wesens nicht in Frage gestellt werden. Sollte es die Sozialdemokratie ver¬
suchen, so haben wir den Belagerungszustand. Hören die Beunruhigungen
von der andern Seite nicht bald auf, so wird es die Ironie der Weltgeschichte
noch mit sich bringen, daß die internationale Umsturzpartei in Deutschland
die Pose der entschlossensten Vorkämpferin für die bestehende Staats- und
Gesellschaftsordnung annehmen kann.




Die Prügelstrafe in der Volksschule
v Joseph Müller on

s ist wunderbar, sagt ein moderner Schriftsteller, wieviel inter¬
essante Dinge heutzutage trotz des ungeheuern Verbrauchs von
Druckerschwärze ungeschrieben bleiben. Zu diesen Dingen gehört
auch das vorliegende Thema. Es erfordert einen gewissen Mut,
nur an seine Besprechung zu gehen in einer Zeit, wo eine ruhige
Debatte so selten ist, und wo sich selbst Regierungen in ihren Verwaltungs¬
maßregeln mehr von politischen als von sachlichen Erwägungen leiten lassen.
Aber die Vertuschung, die Vogelstraußpolitik, so bequem sie für manchen sein
mag, läßt sich doch auf die Dauer nicht aufrecht erhalten, und es ist vielleicht
bester, an die Beseitigung von Übeln zu gehen, ehe sie zu unerträglichen Mi߬
ständen geführt haben.

Auch dem oberflächlichsten Leser der Tagespresse muß sich die erschreckende
Zunahme der Lehrerprozesse wegen „Überschreitung des Züchtigungsrechts" auf¬
drängen. Es handelt sich dabei in der Regel um Körperverletzungen der
schwersten Art, vielfach um lebenslängliche Schädigung der Kinder. Gleichwohl
sind die Strafen dafür durchweg lächerlich gering, und Freisprechung selbst in
krassen Fällen keineswegs selten. In der Regel tritt der gesamte Apparat der
Schulbehörde unter Beihilfe des vivisecirenden Arztes als „Sachverständigen"
wie ein Mann für den Fachgenossen ein, und auch die Staatsanwälte und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/16>, abgerufen am 22.05.2024.