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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht sagen, er werde mich aufsuchen. (Er wollte ihn anpumpen.) Will mir
der Mensch etwas sagen, was die Mutter nicht wissen darf! Nein, denken
Sie! Der Mutter eine solche Schande anthun! Nur einmal noch habe ich ihn
so wild gesehen, als ihn der Schulze über sein Einkommen auszuforschen ver¬
sucht hatte. Die Leute hatten kein eignes Kind, sondern nur einen an-
genommnen Sohn, eine oberschlesische Typhuswaise. Der Mensch war nun
beinahe dreißig Jahre alt und diente als Knecht, ohne Aussicht auf Selb¬
ständigkeit. Er hatte seit sieben Jahren eine Braut, ein hübsches, tüchtiges
Mädchen, das aber arm war und als Magd diente. Jedes Jahr kamen sie
zweimal mit einander zum Abendmahl; sie waren ein stattliches Paar. Jäkels
wollten von der Braut nichts wissen und waren unglücklich über das Ver¬
hältnis. Ihrer Meinung nach sollte der Franz in eine Stelle einheiraten.
Denn ihm die eigne Stelle zu übergeben, daran dachten sie nicht, rüstig, wie
sie noch waren. Ich werd mich hüten, pflegte Mutter Kathrin zu sagen, dem
Sohne zu übergeben und mich ins Ausgedingestübel zu setzen; da hätt ich
nichts mehr, und kein Mensch sah mich mehr an. Kann ich aber mit Thalern
klappern, "do reecha (reichen) se mer olls, wos ich boar (haben) wiel (will), zu
a Fanstern rei." Die jungen Leute aber blieben einander unerschütterlich treu.
Den Alten konnte man ihre Auffassung und Handlungsweise nicht verargen,
die Jungen aber thaten mir leid. Es ist eben so manches, und nicht am
wenigsten dieses, im Leben häßlich eingerichtet.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Politische und Justizkuriosa.

Die Ereignisse des öffentlichen Lebens
nehmen immer mehr die Gestalt von Kuriositäten an. Ist es nicht kurios, wenn
gerade eine liberale Mehrheit dem Staatsanwalt den Gefallen thut, ihm Ab¬
geordnete auszuliefern, die er wegen Preßvergehen verfolgen will? Aber nicht
minder kurios ist es, wenn die Verfolgten, Lueger und Schneider, den Antrag
auf Auslieferung nicht mit der Berufung auf die unantastbaren Privilegien der
Volksvertretung bekämpfen, sondern mit der Behauptung, auf jüdischen Hochzeiten
würden Eier gegessen und mit einem schwarzen Pulver bestreut; "und wissen Sie,
was das ist?" rief Herr Schneider, "Christenblut!" (Große Heiterkeit.) Die einzigen,
die in der wilden Debatte sagten, was in diesem Falle gesagt werden mußte,
waren Peruerstorffer und Kronawetter, wie denn diese beiden Demokraten über¬
haupt die einzigen sind, die in dem griechischen Tempel an der Ringstraße die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht sagen, er werde mich aufsuchen. (Er wollte ihn anpumpen.) Will mir
der Mensch etwas sagen, was die Mutter nicht wissen darf! Nein, denken
Sie! Der Mutter eine solche Schande anthun! Nur einmal noch habe ich ihn
so wild gesehen, als ihn der Schulze über sein Einkommen auszuforschen ver¬
sucht hatte. Die Leute hatten kein eignes Kind, sondern nur einen an-
genommnen Sohn, eine oberschlesische Typhuswaise. Der Mensch war nun
beinahe dreißig Jahre alt und diente als Knecht, ohne Aussicht auf Selb¬
ständigkeit. Er hatte seit sieben Jahren eine Braut, ein hübsches, tüchtiges
Mädchen, das aber arm war und als Magd diente. Jedes Jahr kamen sie
zweimal mit einander zum Abendmahl; sie waren ein stattliches Paar. Jäkels
wollten von der Braut nichts wissen und waren unglücklich über das Ver¬
hältnis. Ihrer Meinung nach sollte der Franz in eine Stelle einheiraten.
Denn ihm die eigne Stelle zu übergeben, daran dachten sie nicht, rüstig, wie
sie noch waren. Ich werd mich hüten, pflegte Mutter Kathrin zu sagen, dem
Sohne zu übergeben und mich ins Ausgedingestübel zu setzen; da hätt ich
nichts mehr, und kein Mensch sah mich mehr an. Kann ich aber mit Thalern
klappern, „do reecha (reichen) se mer olls, wos ich boar (haben) wiel (will), zu
a Fanstern rei." Die jungen Leute aber blieben einander unerschütterlich treu.
Den Alten konnte man ihre Auffassung und Handlungsweise nicht verargen,
die Jungen aber thaten mir leid. Es ist eben so manches, und nicht am
wenigsten dieses, im Leben häßlich eingerichtet.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Politische und Justizkuriosa.

Die Ereignisse des öffentlichen Lebens
nehmen immer mehr die Gestalt von Kuriositäten an. Ist es nicht kurios, wenn
gerade eine liberale Mehrheit dem Staatsanwalt den Gefallen thut, ihm Ab¬
geordnete auszuliefern, die er wegen Preßvergehen verfolgen will? Aber nicht
minder kurios ist es, wenn die Verfolgten, Lueger und Schneider, den Antrag
auf Auslieferung nicht mit der Berufung auf die unantastbaren Privilegien der
Volksvertretung bekämpfen, sondern mit der Behauptung, auf jüdischen Hochzeiten
würden Eier gegessen und mit einem schwarzen Pulver bestreut; „und wissen Sie,
was das ist?" rief Herr Schneider, „Christenblut!" (Große Heiterkeit.) Die einzigen,
die in der wilden Debatte sagten, was in diesem Falle gesagt werden mußte,
waren Peruerstorffer und Kronawetter, wie denn diese beiden Demokraten über¬
haupt die einzigen sind, die in dem griechischen Tempel an der Ringstraße die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/502>, abgerufen am 22.05.2024.