Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Augen gab eine bestimmtere Antwort. Dann hob er die Teckel, die fortwäh¬
rend neugierig in die Höhe sprangen, am Nacken empor, zeigte ihnen das
Kindchen und sagte: Ja, guckts euch nur an! Das wird euer neuer Spiel¬
kamerad!

Frau Hinneburg nahm unter den Zeichen der tiefsten Rührung das Körbchen
in ihre Arme und verschwand damit auf den Fußspitzen. Herr Schwabe aber
trat ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah in die stille Christnacht
hinaus. Es war eine merkwürdige Stimmung über ihn gekommen. Es war
ihm, als hörte er fernes Glockenläuten und Orgelklang und als tönte ihm ein
altes Weihnachtslied in den Ohren. Dann rüusperte er sich und wandte sich in
das Zimmer zurück. Da sah er die Milchflasche stehen. Er ergriff sie und
eilte damit nach der Kammer der Frau Hinneburg. Er klopfte leise an die
Thür, reichte die Flasche hinein und flüsterte: Recht sorgfältig, Hinneburgen,
einen Teil Milch, drei Teile Wasser und immer nur aller zwei Stunden!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Arme Regenten!

Um nicht ungerecht zu werden, weder gegen die Re¬
gierenden noch gegen die Parteiführer, muß man immer die großen Weltverhältnisse
vor Augen haben, die uns alle sozusagen gefangen halten, und die der Gesetzgebung
keinen Schritt gestatten, der nicht von taufenden als ein Unglück beklagt würde,
Verhältnisse, die wir so oft schon dargelegt haben, und zwar mit Beziehung auf
die jetzt schwebenden Gewerbefragen, im laufenden Jahre unter andern: in den
Artikeln: Der menschliche und der unmenschliche Kampf uns Dasein (Ur. L), Sym¬
biose und Parasitismus (Ur. 29), Die Lage des Handwerks (Ur. 42 und 43).
Wer das alles beachtet, der konnte sich unmöglich über die Einmütigkeit wundern,
mit der alle Parteien die Bötticherschen Handwerkerkammern ablehnen; nur darüber
muß man sich wundern, daß sich für den Antrag Hitze eine Mehrheit zusammen¬
fand, und daß demnach einer Kommission die unnütze Quälerei der Durchberatuug
zugemutet wird. Jetzt wartet mau auf den Entwurf des Herrn von Verlepsch,
der für die Handwerkerkammern den Unterban einer "beruflichen" und örtlichen
Organisation darbietet; eine Resolution der Zentrumspartei wird diese Organisation,
verschönert durch den Zwang zum Beitritt und den Befähigungsnachweis, bean¬
tragen, diese Resolution wird die Mehrheit im Reichstage finden, und der Bundesrat
wird sich zum zehnten- oder zwcmzigsteumale vor die Entscheidung gestellt sehen,
ob er den Zunftzwang wiederherstellen will. Armer Bundesrat! Das Netz der
Abhängigkeiten in der modernen Gesellschaft ist so geartet, daß zwar seine Knoten
verschoben, die Stricke aber, aus deuen es besteht, nicht verlängert werden können.
Jedes einzelnen Hals steckt in einer Masche. Fängt die Schlinge an zu drücken,
und das kommt immer bei einigen taufenden oder Hunderttausenden gleichzeitig vor,
so schreien die Gewürgten; nun kommt eine wohlwollende Regierung und lockert
die Maschen, aber das bewirkt natürlich eine Verengerung andrer Maschen. Da


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Augen gab eine bestimmtere Antwort. Dann hob er die Teckel, die fortwäh¬
rend neugierig in die Höhe sprangen, am Nacken empor, zeigte ihnen das
Kindchen und sagte: Ja, guckts euch nur an! Das wird euer neuer Spiel¬
kamerad!

Frau Hinneburg nahm unter den Zeichen der tiefsten Rührung das Körbchen
in ihre Arme und verschwand damit auf den Fußspitzen. Herr Schwabe aber
trat ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah in die stille Christnacht
hinaus. Es war eine merkwürdige Stimmung über ihn gekommen. Es war
ihm, als hörte er fernes Glockenläuten und Orgelklang und als tönte ihm ein
altes Weihnachtslied in den Ohren. Dann rüusperte er sich und wandte sich in
das Zimmer zurück. Da sah er die Milchflasche stehen. Er ergriff sie und
eilte damit nach der Kammer der Frau Hinneburg. Er klopfte leise an die
Thür, reichte die Flasche hinein und flüsterte: Recht sorgfältig, Hinneburgen,
einen Teil Milch, drei Teile Wasser und immer nur aller zwei Stunden!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Arme Regenten!

Um nicht ungerecht zu werden, weder gegen die Re¬
gierenden noch gegen die Parteiführer, muß man immer die großen Weltverhältnisse
vor Augen haben, die uns alle sozusagen gefangen halten, und die der Gesetzgebung
keinen Schritt gestatten, der nicht von taufenden als ein Unglück beklagt würde,
Verhältnisse, die wir so oft schon dargelegt haben, und zwar mit Beziehung auf
die jetzt schwebenden Gewerbefragen, im laufenden Jahre unter andern: in den
Artikeln: Der menschliche und der unmenschliche Kampf uns Dasein (Ur. L), Sym¬
biose und Parasitismus (Ur. 29), Die Lage des Handwerks (Ur. 42 und 43).
Wer das alles beachtet, der konnte sich unmöglich über die Einmütigkeit wundern,
mit der alle Parteien die Bötticherschen Handwerkerkammern ablehnen; nur darüber
muß man sich wundern, daß sich für den Antrag Hitze eine Mehrheit zusammen¬
fand, und daß demnach einer Kommission die unnütze Quälerei der Durchberatuug
zugemutet wird. Jetzt wartet mau auf den Entwurf des Herrn von Verlepsch,
der für die Handwerkerkammern den Unterban einer „beruflichen" und örtlichen
Organisation darbietet; eine Resolution der Zentrumspartei wird diese Organisation,
verschönert durch den Zwang zum Beitritt und den Befähigungsnachweis, bean¬
tragen, diese Resolution wird die Mehrheit im Reichstage finden, und der Bundesrat
wird sich zum zehnten- oder zwcmzigsteumale vor die Entscheidung gestellt sehen,
ob er den Zunftzwang wiederherstellen will. Armer Bundesrat! Das Netz der
Abhängigkeiten in der modernen Gesellschaft ist so geartet, daß zwar seine Knoten
verschoben, die Stricke aber, aus deuen es besteht, nicht verlängert werden können.
Jedes einzelnen Hals steckt in einer Masche. Fängt die Schlinge an zu drücken,
und das kommt immer bei einigen taufenden oder Hunderttausenden gleichzeitig vor,
so schreien die Gewürgten; nun kommt eine wohlwollende Regierung und lockert
die Maschen, aber das bewirkt natürlich eine Verengerung andrer Maschen. Da


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0654" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221628"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2231" prev="#ID_2230"> Augen gab eine bestimmtere Antwort. Dann hob er die Teckel, die fortwäh¬<lb/>
rend neugierig in die Höhe sprangen, am Nacken empor, zeigte ihnen das<lb/>
Kindchen und sagte: Ja, guckts euch nur an! Das wird euer neuer Spiel¬<lb/>
kamerad!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2232"> Frau Hinneburg nahm unter den Zeichen der tiefsten Rührung das Körbchen<lb/>
in ihre Arme und verschwand damit auf den Fußspitzen. Herr Schwabe aber<lb/>
trat ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah in die stille Christnacht<lb/>
hinaus. Es war eine merkwürdige Stimmung über ihn gekommen. Es war<lb/>
ihm, als hörte er fernes Glockenläuten und Orgelklang und als tönte ihm ein<lb/>
altes Weihnachtslied in den Ohren. Dann rüusperte er sich und wandte sich in<lb/>
das Zimmer zurück. Da sah er die Milchflasche stehen. Er ergriff sie und<lb/>
eilte damit nach der Kammer der Frau Hinneburg. Er klopfte leise an die<lb/>
Thür, reichte die Flasche hinein und flüsterte: Recht sorgfältig, Hinneburgen,<lb/>
einen Teil Milch, drei Teile Wasser und immer nur aller zwei Stunden!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Arme Regenten!</head>
            <p xml:id="ID_2233" next="#ID_2234"> Um nicht ungerecht zu werden, weder gegen die Re¬<lb/>
gierenden noch gegen die Parteiführer, muß man immer die großen Weltverhältnisse<lb/>
vor Augen haben, die uns alle sozusagen gefangen halten, und die der Gesetzgebung<lb/>
keinen Schritt gestatten, der nicht von taufenden als ein Unglück beklagt würde,<lb/>
Verhältnisse, die wir so oft schon dargelegt haben, und zwar mit Beziehung auf<lb/>
die jetzt schwebenden Gewerbefragen, im laufenden Jahre unter andern: in den<lb/>
Artikeln: Der menschliche und der unmenschliche Kampf uns Dasein (Ur. L), Sym¬<lb/>
biose und Parasitismus (Ur. 29), Die Lage des Handwerks (Ur. 42 und 43).<lb/>
Wer das alles beachtet, der konnte sich unmöglich über die Einmütigkeit wundern,<lb/>
mit der alle Parteien die Bötticherschen Handwerkerkammern ablehnen; nur darüber<lb/>
muß man sich wundern, daß sich für den Antrag Hitze eine Mehrheit zusammen¬<lb/>
fand, und daß demnach einer Kommission die unnütze Quälerei der Durchberatuug<lb/>
zugemutet wird. Jetzt wartet mau auf den Entwurf des Herrn von Verlepsch,<lb/>
der für die Handwerkerkammern den Unterban einer &#x201E;beruflichen" und örtlichen<lb/>
Organisation darbietet; eine Resolution der Zentrumspartei wird diese Organisation,<lb/>
verschönert durch den Zwang zum Beitritt und den Befähigungsnachweis, bean¬<lb/>
tragen, diese Resolution wird die Mehrheit im Reichstage finden, und der Bundesrat<lb/>
wird sich zum zehnten- oder zwcmzigsteumale vor die Entscheidung gestellt sehen,<lb/>
ob er den Zunftzwang wiederherstellen will. Armer Bundesrat! Das Netz der<lb/>
Abhängigkeiten in der modernen Gesellschaft ist so geartet, daß zwar seine Knoten<lb/>
verschoben, die Stricke aber, aus deuen es besteht, nicht verlängert werden können.<lb/>
Jedes einzelnen Hals steckt in einer Masche. Fängt die Schlinge an zu drücken,<lb/>
und das kommt immer bei einigen taufenden oder Hunderttausenden gleichzeitig vor,<lb/>
so schreien die Gewürgten; nun kommt eine wohlwollende Regierung und lockert<lb/>
die Maschen, aber das bewirkt natürlich eine Verengerung andrer Maschen. Da</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0654] Maßgebliches und Unmaßgebliches Augen gab eine bestimmtere Antwort. Dann hob er die Teckel, die fortwäh¬ rend neugierig in die Höhe sprangen, am Nacken empor, zeigte ihnen das Kindchen und sagte: Ja, guckts euch nur an! Das wird euer neuer Spiel¬ kamerad! Frau Hinneburg nahm unter den Zeichen der tiefsten Rührung das Körbchen in ihre Arme und verschwand damit auf den Fußspitzen. Herr Schwabe aber trat ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah in die stille Christnacht hinaus. Es war eine merkwürdige Stimmung über ihn gekommen. Es war ihm, als hörte er fernes Glockenläuten und Orgelklang und als tönte ihm ein altes Weihnachtslied in den Ohren. Dann rüusperte er sich und wandte sich in das Zimmer zurück. Da sah er die Milchflasche stehen. Er ergriff sie und eilte damit nach der Kammer der Frau Hinneburg. Er klopfte leise an die Thür, reichte die Flasche hinein und flüsterte: Recht sorgfältig, Hinneburgen, einen Teil Milch, drei Teile Wasser und immer nur aller zwei Stunden! Maßgebliches und Unmaßgebliches Arme Regenten! Um nicht ungerecht zu werden, weder gegen die Re¬ gierenden noch gegen die Parteiführer, muß man immer die großen Weltverhältnisse vor Augen haben, die uns alle sozusagen gefangen halten, und die der Gesetzgebung keinen Schritt gestatten, der nicht von taufenden als ein Unglück beklagt würde, Verhältnisse, die wir so oft schon dargelegt haben, und zwar mit Beziehung auf die jetzt schwebenden Gewerbefragen, im laufenden Jahre unter andern: in den Artikeln: Der menschliche und der unmenschliche Kampf uns Dasein (Ur. L), Sym¬ biose und Parasitismus (Ur. 29), Die Lage des Handwerks (Ur. 42 und 43). Wer das alles beachtet, der konnte sich unmöglich über die Einmütigkeit wundern, mit der alle Parteien die Bötticherschen Handwerkerkammern ablehnen; nur darüber muß man sich wundern, daß sich für den Antrag Hitze eine Mehrheit zusammen¬ fand, und daß demnach einer Kommission die unnütze Quälerei der Durchberatuug zugemutet wird. Jetzt wartet mau auf den Entwurf des Herrn von Verlepsch, der für die Handwerkerkammern den Unterban einer „beruflichen" und örtlichen Organisation darbietet; eine Resolution der Zentrumspartei wird diese Organisation, verschönert durch den Zwang zum Beitritt und den Befähigungsnachweis, bean¬ tragen, diese Resolution wird die Mehrheit im Reichstage finden, und der Bundesrat wird sich zum zehnten- oder zwcmzigsteumale vor die Entscheidung gestellt sehen, ob er den Zunftzwang wiederherstellen will. Armer Bundesrat! Das Netz der Abhängigkeiten in der modernen Gesellschaft ist so geartet, daß zwar seine Knoten verschoben, die Stricke aber, aus deuen es besteht, nicht verlängert werden können. Jedes einzelnen Hals steckt in einer Masche. Fängt die Schlinge an zu drücken, und das kommt immer bei einigen taufenden oder Hunderttausenden gleichzeitig vor, so schreien die Gewürgten; nun kommt eine wohlwollende Regierung und lockert die Maschen, aber das bewirkt natürlich eine Verengerung andrer Maschen. Da

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/654
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/654>, abgerufen am 22.05.2024.