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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

des furchtbaren Gegensatzes zwischen Arm und Reich zu leisten, wenn es nicht
gelingt, die Nächstenliebe, diesen allerwirksamsten und allerindividuellster So¬
zialismus, im Volke wieder wachzurufen.

Und das sollten in der That die "politischen Pastoren" endlich begreifen,
die liberalen wie die orthodoxen, statt im Kampfe der politischen Parteien mit
zu schüren, Haß zu säen, statt Liebe zu predigen, den Unfrieden zu verschärfen,
statt ihn zu mildern. Hoch über den Parteien und den Interessengruppen
und ihren materiellen Sonderbestrebungen steht die Liebe unter einander, an
der man die Christen heute erkennen soll, wie zur Zeit der Apostel, und diesen
christlichen Sozialismus im Gegensatz zum Staatssozialismus mit aller Be¬
geisterung und Hingebung zu Pflegen, statt in unchristlicher Unduldsamkeit starre
Bekenntnissütze zum wachsenden Ärgernis der in der Schule der Neuzeit groß
gewordnen Massen als das hinzustellen, was den Christen ausmacht, das ist
die erhabenste, ernsteste, dringendste soziale Aufgabe der Kirche und ihrer Diener
am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.

Möchten in diesem Sinne die kaiserlichen Worte ein Mahnruf werden,
nicht an die politischen Pastoren allein, sondern auch an die sehr große Masse
der bequemen, gleichgiltigen, allerunterthänigst unpolitischen Pastoren.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Gewerkvereine und die Politik. Da sich über die parlamentarischen
Leistungen der vorigen Woche nichts sagen läßt, was nicht schon hundertmal gesagt
worden wäre, die Krisengerüchte aber unkontrollirbarer Klatsch sind, so wollen wir
nachträglich einem Ereignis der ersten Maiwoche ein paar Worte widmein dem
sozialdemokratischen Gewerkschaftskongreß, der in Berlin abgehalten worden ist. Die
Langweiligkeit der Debatten dieses Kongresses und der Umstand, daß er in der
Presse wenig beachtet worden ist, beweisen aufs neue die geringe Lebenskraft der
deutschen Gewerkvereine. Zwar haben es die sozialdemokratischen auf 300000 Mit¬
glieder gebracht, ungefähr fünfmal soviel wie die Hirsch-Dunckerschen, aber was ist
das gegen die anderthalb Millionen Mitglieder der englischen, und wie wenig leisten
sie! Der Vorschlag, einen von der Parteikasse gesonderten Streikfonds zu gründen,
der von der Generalkvmmission der Gewerkschaften verwaltet werden solle, wurde
mit großer Mehrheit abgelehnt. Daraufhin erhoben konservative Blätter den Vor¬
wurf, die ganze deutsche Gewerkschaftsbewegung werde nur als Mittel für die
politischen Zwecke der Partei mißbraucht. Mit der Thatsache, daß in Deutschland
die Gewerkschaftsbewegung der Parteipvlitik untergeordnet wird, hat es seine Richtig¬
keit, aber dieser Zustand ergiebt sich unvermeidlich aus unsern politischen Verhält¬
nissen. Wollten die neuen Gewerkvereine die Politik ausschließen, so würden sie
es nicht weiter bringen als die alten, die ja sehr achtuugswert, aber bei ihrer
geringen Mitgliederzahl und bei der engen Begrenzung ihres Wirkungskreises ohne


Maßgebliches und Unmaßgebliches

des furchtbaren Gegensatzes zwischen Arm und Reich zu leisten, wenn es nicht
gelingt, die Nächstenliebe, diesen allerwirksamsten und allerindividuellster So¬
zialismus, im Volke wieder wachzurufen.

Und das sollten in der That die „politischen Pastoren" endlich begreifen,
die liberalen wie die orthodoxen, statt im Kampfe der politischen Parteien mit
zu schüren, Haß zu säen, statt Liebe zu predigen, den Unfrieden zu verschärfen,
statt ihn zu mildern. Hoch über den Parteien und den Interessengruppen
und ihren materiellen Sonderbestrebungen steht die Liebe unter einander, an
der man die Christen heute erkennen soll, wie zur Zeit der Apostel, und diesen
christlichen Sozialismus im Gegensatz zum Staatssozialismus mit aller Be¬
geisterung und Hingebung zu Pflegen, statt in unchristlicher Unduldsamkeit starre
Bekenntnissütze zum wachsenden Ärgernis der in der Schule der Neuzeit groß
gewordnen Massen als das hinzustellen, was den Christen ausmacht, das ist
die erhabenste, ernsteste, dringendste soziale Aufgabe der Kirche und ihrer Diener
am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.

Möchten in diesem Sinne die kaiserlichen Worte ein Mahnruf werden,
nicht an die politischen Pastoren allein, sondern auch an die sehr große Masse
der bequemen, gleichgiltigen, allerunterthänigst unpolitischen Pastoren.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Gewerkvereine und die Politik. Da sich über die parlamentarischen
Leistungen der vorigen Woche nichts sagen läßt, was nicht schon hundertmal gesagt
worden wäre, die Krisengerüchte aber unkontrollirbarer Klatsch sind, so wollen wir
nachträglich einem Ereignis der ersten Maiwoche ein paar Worte widmein dem
sozialdemokratischen Gewerkschaftskongreß, der in Berlin abgehalten worden ist. Die
Langweiligkeit der Debatten dieses Kongresses und der Umstand, daß er in der
Presse wenig beachtet worden ist, beweisen aufs neue die geringe Lebenskraft der
deutschen Gewerkvereine. Zwar haben es die sozialdemokratischen auf 300000 Mit¬
glieder gebracht, ungefähr fünfmal soviel wie die Hirsch-Dunckerschen, aber was ist
das gegen die anderthalb Millionen Mitglieder der englischen, und wie wenig leisten
sie! Der Vorschlag, einen von der Parteikasse gesonderten Streikfonds zu gründen,
der von der Generalkvmmission der Gewerkschaften verwaltet werden solle, wurde
mit großer Mehrheit abgelehnt. Daraufhin erhoben konservative Blätter den Vor¬
wurf, die ganze deutsche Gewerkschaftsbewegung werde nur als Mittel für die
politischen Zwecke der Partei mißbraucht. Mit der Thatsache, daß in Deutschland
die Gewerkschaftsbewegung der Parteipvlitik untergeordnet wird, hat es seine Richtig¬
keit, aber dieser Zustand ergiebt sich unvermeidlich aus unsern politischen Verhält¬
nissen. Wollten die neuen Gewerkvereine die Politik ausschließen, so würden sie
es nicht weiter bringen als die alten, die ja sehr achtuugswert, aber bei ihrer
geringen Mitgliederzahl und bei der engen Begrenzung ihres Wirkungskreises ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/388>, abgerufen am 28.04.2024.