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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Politische Pastoren

Die christliche Nächstenliebe wieder als den "kategorischen Imperativ" zur
Anerkennung zu bringen in den Beziehungen des Einzelnen zu jedem Einzelnen,
mit dem er zu thun hat und in Berührung kommt, das muß das grund¬
sätzliche Ziel des heutigen Sozialismus sein; die Sittlichkeit und Christlichkeit
in den äußerlichen, zwangsweise mit Schutzmann und Strafrichter, wenn nötig,
durchzusetzenden Ordnungen, ist dem gegenüber von untergeordneter Bedeutung.
Und in dieser Anerkennung liegt dann auch die Versöhnung des Sozialismus
mit dem Individualismus, wie sie nicht nur dem Christentum allein entspricht,
sondern auch allein praktisch vernünftig ist, und die Gewähr für vollkommeneres
Glück und sichreren Frieden in der Gesellschaft für die Zukunft bietet. Die heutige
staatswissenschaftliche Schule ist mit Recht stolz darauf, daß sie in der wissen¬
schaftlichen Behandlung der Volkswirtschaft und zum Teil auch in ihrer staat¬
lichen Behandlung den "kategorischen Imperativ" der Sittlichkeit wieder zu Ehren
gebracht hat, aber auch sie hat es bisher viel zu wenig anerkannt, daß, wenn sich
die Volkswirtschaft, wenn sich der soziale Zustand des Ganzen bessern, oder
richtiger gesagt: wenn er nicht zum Zusammenbruch führen soll, jener kategorische
Imperativ vor allem in den Beziehungen vom Nächsten zum Nächsten zur
Macht gelangen muß, im Armen wie im Reichen, im Arbeiter wie im Unter¬
nehmer. Die Einseitigkeit des Manchestertums hat sich ganz besonders unter
uns Deutschen, die wir für Einseitigkeiten eine so hervorragende Begcibnng
haben, nicht beschränkt auf Handels- und Zollpolitik, auf Gesetze für die innere
Ordnung oder deren Beseitigung, auch nicht etwa auf die geschäftliche, kauf¬
männische Praxis, sondern sie hat, wie das ja gar nicht anders sein konnte,
den Grundsatz des rücksichtslosen Eigennutzes in das ganze Verhalten des
Menschen zum Menschen und natürlich auch des Einzelnen zum Ganzen hinein¬
getragen. Sie hat das gethan mit solcher Nachhaltigkeit, daß selbst die eifrigsten
unsrer Staatssozinlisten, die wissenschaftlichen wie die praktischen, noch immer
dem Einzelnen im Verhalten zum Einzelnen gar nichts andres als den kon¬
sequenten Eigennutz zutrauen und über "karitative" Bethätigung der Nächsten¬
liebe des reichen Mannes in Stiftungen, Wohlfahrtseinrichtungen und Vereins-
bestrebuugen nicht hinauskommen. Von dem kategorischen Imperativ sür den
armen Mann, für den Arbeiter scheinen sie vollends gar nichts zu wissen,
^eini man bedenkt, daß das Eindringen der rücksichtslosen Manchestermoral
Ul die Herzen des Volks, dieser im übelsten Sinne kaufmännischen Pflichten-
^hre, die man in frühern Zeiten als Eigenart der Juden im Geschäftsverkehr
Mit Nichtjuden ansah, für alle Verhältnisse des Menschenlebens zusammenfiel
mit einer Umwälzung sonder gleichen auf dem Gebiete der technischen Güter-
Erzeugung und des geschäftlichen Bermögenserwerbs, dann ist das Anwachsen der
wzialen Gefahr zu der Höhe vou heut erst recht begreiflich, und alle gesetzlichen
Reformen und Schutzmaßregeln -- das sieht man ja von Jahr zu Jahr deut¬
licher -- vermögen so gut wie gar nichts zur Abwendung der Gefahr, zur Heilung


Politische Pastoren

Die christliche Nächstenliebe wieder als den „kategorischen Imperativ" zur
Anerkennung zu bringen in den Beziehungen des Einzelnen zu jedem Einzelnen,
mit dem er zu thun hat und in Berührung kommt, das muß das grund¬
sätzliche Ziel des heutigen Sozialismus sein; die Sittlichkeit und Christlichkeit
in den äußerlichen, zwangsweise mit Schutzmann und Strafrichter, wenn nötig,
durchzusetzenden Ordnungen, ist dem gegenüber von untergeordneter Bedeutung.
Und in dieser Anerkennung liegt dann auch die Versöhnung des Sozialismus
mit dem Individualismus, wie sie nicht nur dem Christentum allein entspricht,
sondern auch allein praktisch vernünftig ist, und die Gewähr für vollkommeneres
Glück und sichreren Frieden in der Gesellschaft für die Zukunft bietet. Die heutige
staatswissenschaftliche Schule ist mit Recht stolz darauf, daß sie in der wissen¬
schaftlichen Behandlung der Volkswirtschaft und zum Teil auch in ihrer staat¬
lichen Behandlung den „kategorischen Imperativ" der Sittlichkeit wieder zu Ehren
gebracht hat, aber auch sie hat es bisher viel zu wenig anerkannt, daß, wenn sich
die Volkswirtschaft, wenn sich der soziale Zustand des Ganzen bessern, oder
richtiger gesagt: wenn er nicht zum Zusammenbruch führen soll, jener kategorische
Imperativ vor allem in den Beziehungen vom Nächsten zum Nächsten zur
Macht gelangen muß, im Armen wie im Reichen, im Arbeiter wie im Unter¬
nehmer. Die Einseitigkeit des Manchestertums hat sich ganz besonders unter
uns Deutschen, die wir für Einseitigkeiten eine so hervorragende Begcibnng
haben, nicht beschränkt auf Handels- und Zollpolitik, auf Gesetze für die innere
Ordnung oder deren Beseitigung, auch nicht etwa auf die geschäftliche, kauf¬
männische Praxis, sondern sie hat, wie das ja gar nicht anders sein konnte,
den Grundsatz des rücksichtslosen Eigennutzes in das ganze Verhalten des
Menschen zum Menschen und natürlich auch des Einzelnen zum Ganzen hinein¬
getragen. Sie hat das gethan mit solcher Nachhaltigkeit, daß selbst die eifrigsten
unsrer Staatssozinlisten, die wissenschaftlichen wie die praktischen, noch immer
dem Einzelnen im Verhalten zum Einzelnen gar nichts andres als den kon¬
sequenten Eigennutz zutrauen und über „karitative" Bethätigung der Nächsten¬
liebe des reichen Mannes in Stiftungen, Wohlfahrtseinrichtungen und Vereins-
bestrebuugen nicht hinauskommen. Von dem kategorischen Imperativ sür den
armen Mann, für den Arbeiter scheinen sie vollends gar nichts zu wissen,
^eini man bedenkt, daß das Eindringen der rücksichtslosen Manchestermoral
Ul die Herzen des Volks, dieser im übelsten Sinne kaufmännischen Pflichten-
^hre, die man in frühern Zeiten als Eigenart der Juden im Geschäftsverkehr
Mit Nichtjuden ansah, für alle Verhältnisse des Menschenlebens zusammenfiel
mit einer Umwälzung sonder gleichen auf dem Gebiete der technischen Güter-
Erzeugung und des geschäftlichen Bermögenserwerbs, dann ist das Anwachsen der
wzialen Gefahr zu der Höhe vou heut erst recht begreiflich, und alle gesetzlichen
Reformen und Schutzmaßregeln — das sieht man ja von Jahr zu Jahr deut¬
licher — vermögen so gut wie gar nichts zur Abwendung der Gefahr, zur Heilung


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[0387] Politische Pastoren Die christliche Nächstenliebe wieder als den „kategorischen Imperativ" zur Anerkennung zu bringen in den Beziehungen des Einzelnen zu jedem Einzelnen, mit dem er zu thun hat und in Berührung kommt, das muß das grund¬ sätzliche Ziel des heutigen Sozialismus sein; die Sittlichkeit und Christlichkeit in den äußerlichen, zwangsweise mit Schutzmann und Strafrichter, wenn nötig, durchzusetzenden Ordnungen, ist dem gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Und in dieser Anerkennung liegt dann auch die Versöhnung des Sozialismus mit dem Individualismus, wie sie nicht nur dem Christentum allein entspricht, sondern auch allein praktisch vernünftig ist, und die Gewähr für vollkommeneres Glück und sichreren Frieden in der Gesellschaft für die Zukunft bietet. Die heutige staatswissenschaftliche Schule ist mit Recht stolz darauf, daß sie in der wissen¬ schaftlichen Behandlung der Volkswirtschaft und zum Teil auch in ihrer staat¬ lichen Behandlung den „kategorischen Imperativ" der Sittlichkeit wieder zu Ehren gebracht hat, aber auch sie hat es bisher viel zu wenig anerkannt, daß, wenn sich die Volkswirtschaft, wenn sich der soziale Zustand des Ganzen bessern, oder richtiger gesagt: wenn er nicht zum Zusammenbruch führen soll, jener kategorische Imperativ vor allem in den Beziehungen vom Nächsten zum Nächsten zur Macht gelangen muß, im Armen wie im Reichen, im Arbeiter wie im Unter¬ nehmer. Die Einseitigkeit des Manchestertums hat sich ganz besonders unter uns Deutschen, die wir für Einseitigkeiten eine so hervorragende Begcibnng haben, nicht beschränkt auf Handels- und Zollpolitik, auf Gesetze für die innere Ordnung oder deren Beseitigung, auch nicht etwa auf die geschäftliche, kauf¬ männische Praxis, sondern sie hat, wie das ja gar nicht anders sein konnte, den Grundsatz des rücksichtslosen Eigennutzes in das ganze Verhalten des Menschen zum Menschen und natürlich auch des Einzelnen zum Ganzen hinein¬ getragen. Sie hat das gethan mit solcher Nachhaltigkeit, daß selbst die eifrigsten unsrer Staatssozinlisten, die wissenschaftlichen wie die praktischen, noch immer dem Einzelnen im Verhalten zum Einzelnen gar nichts andres als den kon¬ sequenten Eigennutz zutrauen und über „karitative" Bethätigung der Nächsten¬ liebe des reichen Mannes in Stiftungen, Wohlfahrtseinrichtungen und Vereins- bestrebuugen nicht hinauskommen. Von dem kategorischen Imperativ sür den armen Mann, für den Arbeiter scheinen sie vollends gar nichts zu wissen, ^eini man bedenkt, daß das Eindringen der rücksichtslosen Manchestermoral Ul die Herzen des Volks, dieser im übelsten Sinne kaufmännischen Pflichten- ^hre, die man in frühern Zeiten als Eigenart der Juden im Geschäftsverkehr Mit Nichtjuden ansah, für alle Verhältnisse des Menschenlebens zusammenfiel mit einer Umwälzung sonder gleichen auf dem Gebiete der technischen Güter- Erzeugung und des geschäftlichen Bermögenserwerbs, dann ist das Anwachsen der wzialen Gefahr zu der Höhe vou heut erst recht begreiflich, und alle gesetzlichen Reformen und Schutzmaßregeln — das sieht man ja von Jahr zu Jahr deut¬ licher — vermögen so gut wie gar nichts zur Abwendung der Gefahr, zur Heilung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/387>, abgerufen am 13.05.2024.