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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der englische ?oetcd I^ure^of

Menar gezeichnet -- überhaupt die erste genügende kartographische Darstellung
des mittelalterlichen Livland ist und die bisherigen Vorstellungen mehrfach er¬
gänzt und berichtigt. Als Ganzes macht das Werk durch echt geschichtliche
Auffassung, wie durch Darstellung und Ausstattung einen sehr guten Eindruck.
Einzelheiten zu erörtern hat für die Deutschen im Reiche keinen Zweck. Wir
können das Werk aus einem doppelten Grunde nur warm empfehlen: für den
historisch und politisch besonders interessirten Leser findet sich in der Geschichte
Livlands eine Fülle von bedeutsamen Ereignissen und Gedanken, und wem bei
geschichtlicher Lektüre mehr an der Mannichfaltigkeit des Stoffes, an Origi¬
nalität der Zustände und raschem Wechsel der Ereignisse liegt, findet hier
ebenfalls seine Rechnung.




9er englische ?oew I^ure^wZ
Ernst Groth von

an kann nicht behaupten, daß sich die englische Gesellschaft jemals
durch feines litterarisches Urteil ausgezeichnet hätte. Fast jeder
große englische Schriftsteller hat mit der Gleichgiltigkeit, Verbohrt-
heit und Engherzigkeit der oberen Gesellschaftsschichten zu kämpfen
gehabt. Sich ein eigenes Urteil über litterarische und künstlerische
Fragen zu bilden, gehört auch nicht zu den Aufgaben des IiiAll-liiL. Wo sollte
bei den meisten englischen Aristokraten die Ruhe und Verinnerlichung her¬
kommen, die zur Bildung des Urteils und Geschmacks notwendig sind! Der
Sport mit seinen bis zur Lächerlichkeit gehenden Übertreibungen, das politische
Leben mit seinem Krämergeist und seiner Jnteressenwirtschaft, der gesellschaftliche
Firlefanz, der die Geistlosigkeit durch alberne Formalitäten zu verdecken sucht,
und nicht zum mindesten das stumpfsinnig betriebne Reisen -- alle diese not¬
wendigen Lebenszwecke des englischen Aristokraten lassen weder Raum noch
Verständnis für die litterarischen und künstlerischen Leistungen der Zeit. Der
Kritiker Mntthew Arnold hat daher nicht Unrecht, wenn er den englischen
Mittelstand Philister und die Aristokratie Barbaren nennt.

Diese Unfähigkeit der maßgebenden Kreise, über litterarische Fragen ein
richtiges Urteil zu fällen, hat sich in der letzten Zeit wieder einmal schlagend
offenbart, als es sich darum handelte, für den verstorbnen posw iNiresaws
Alfred Tennyson einen Nachfolger zu wählen. Mehr als drei Jahre ließ man
verstreichen, ehe man sich zur endgiltigen Wahl entschloß. Lord Rosebery


Der englische ?oetcd I^ure^of

Menar gezeichnet — überhaupt die erste genügende kartographische Darstellung
des mittelalterlichen Livland ist und die bisherigen Vorstellungen mehrfach er¬
gänzt und berichtigt. Als Ganzes macht das Werk durch echt geschichtliche
Auffassung, wie durch Darstellung und Ausstattung einen sehr guten Eindruck.
Einzelheiten zu erörtern hat für die Deutschen im Reiche keinen Zweck. Wir
können das Werk aus einem doppelten Grunde nur warm empfehlen: für den
historisch und politisch besonders interessirten Leser findet sich in der Geschichte
Livlands eine Fülle von bedeutsamen Ereignissen und Gedanken, und wem bei
geschichtlicher Lektüre mehr an der Mannichfaltigkeit des Stoffes, an Origi¬
nalität der Zustände und raschem Wechsel der Ereignisse liegt, findet hier
ebenfalls seine Rechnung.




9er englische ?oew I^ure^wZ
Ernst Groth von

an kann nicht behaupten, daß sich die englische Gesellschaft jemals
durch feines litterarisches Urteil ausgezeichnet hätte. Fast jeder
große englische Schriftsteller hat mit der Gleichgiltigkeit, Verbohrt-
heit und Engherzigkeit der oberen Gesellschaftsschichten zu kämpfen
gehabt. Sich ein eigenes Urteil über litterarische und künstlerische
Fragen zu bilden, gehört auch nicht zu den Aufgaben des IiiAll-liiL. Wo sollte
bei den meisten englischen Aristokraten die Ruhe und Verinnerlichung her¬
kommen, die zur Bildung des Urteils und Geschmacks notwendig sind! Der
Sport mit seinen bis zur Lächerlichkeit gehenden Übertreibungen, das politische
Leben mit seinem Krämergeist und seiner Jnteressenwirtschaft, der gesellschaftliche
Firlefanz, der die Geistlosigkeit durch alberne Formalitäten zu verdecken sucht,
und nicht zum mindesten das stumpfsinnig betriebne Reisen — alle diese not¬
wendigen Lebenszwecke des englischen Aristokraten lassen weder Raum noch
Verständnis für die litterarischen und künstlerischen Leistungen der Zeit. Der
Kritiker Mntthew Arnold hat daher nicht Unrecht, wenn er den englischen
Mittelstand Philister und die Aristokratie Barbaren nennt.

Diese Unfähigkeit der maßgebenden Kreise, über litterarische Fragen ein
richtiges Urteil zu fällen, hat sich in der letzten Zeit wieder einmal schlagend
offenbart, als es sich darum handelte, für den verstorbnen posw iNiresaws
Alfred Tennyson einen Nachfolger zu wählen. Mehr als drei Jahre ließ man
verstreichen, ehe man sich zur endgiltigen Wahl entschloß. Lord Rosebery


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[0077] Der englische ?oetcd I^ure^of Menar gezeichnet — überhaupt die erste genügende kartographische Darstellung des mittelalterlichen Livland ist und die bisherigen Vorstellungen mehrfach er¬ gänzt und berichtigt. Als Ganzes macht das Werk durch echt geschichtliche Auffassung, wie durch Darstellung und Ausstattung einen sehr guten Eindruck. Einzelheiten zu erörtern hat für die Deutschen im Reiche keinen Zweck. Wir können das Werk aus einem doppelten Grunde nur warm empfehlen: für den historisch und politisch besonders interessirten Leser findet sich in der Geschichte Livlands eine Fülle von bedeutsamen Ereignissen und Gedanken, und wem bei geschichtlicher Lektüre mehr an der Mannichfaltigkeit des Stoffes, an Origi¬ nalität der Zustände und raschem Wechsel der Ereignisse liegt, findet hier ebenfalls seine Rechnung. 9er englische ?oew I^ure^wZ Ernst Groth von an kann nicht behaupten, daß sich die englische Gesellschaft jemals durch feines litterarisches Urteil ausgezeichnet hätte. Fast jeder große englische Schriftsteller hat mit der Gleichgiltigkeit, Verbohrt- heit und Engherzigkeit der oberen Gesellschaftsschichten zu kämpfen gehabt. Sich ein eigenes Urteil über litterarische und künstlerische Fragen zu bilden, gehört auch nicht zu den Aufgaben des IiiAll-liiL. Wo sollte bei den meisten englischen Aristokraten die Ruhe und Verinnerlichung her¬ kommen, die zur Bildung des Urteils und Geschmacks notwendig sind! Der Sport mit seinen bis zur Lächerlichkeit gehenden Übertreibungen, das politische Leben mit seinem Krämergeist und seiner Jnteressenwirtschaft, der gesellschaftliche Firlefanz, der die Geistlosigkeit durch alberne Formalitäten zu verdecken sucht, und nicht zum mindesten das stumpfsinnig betriebne Reisen — alle diese not¬ wendigen Lebenszwecke des englischen Aristokraten lassen weder Raum noch Verständnis für die litterarischen und künstlerischen Leistungen der Zeit. Der Kritiker Mntthew Arnold hat daher nicht Unrecht, wenn er den englischen Mittelstand Philister und die Aristokratie Barbaren nennt. Diese Unfähigkeit der maßgebenden Kreise, über litterarische Fragen ein richtiges Urteil zu fällen, hat sich in der letzten Zeit wieder einmal schlagend offenbart, als es sich darum handelte, für den verstorbnen posw iNiresaws Alfred Tennyson einen Nachfolger zu wählen. Mehr als drei Jahre ließ man verstreichen, ehe man sich zur endgiltigen Wahl entschloß. Lord Rosebery

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/77>, abgerufen am 28.04.2024.